Noch im vergangenen Winter war Amerikas Zentralbank FED eifrig damit beschäftigt, sich auf die Schulter zu klopfen. Die Senkung des Leitzinssatzes der Bundesbank auf 1,75 Prozent pro Jahr schien Erfolg zu zeitigen, die Rezession an ihr Ende zu kommen. Trotz nüchternerer Erwartungen über die Auswirkung der Hightech-Revolution auf Produktivität und Profite und trotz der durch den Terrorangriff auf das World Trade Center entfachten Angst glaubte man, dass US-Unternehmen bald wieder in großem Stil investieren würden, weil sich Geld zu 1,75 % Zinsen auszuleihen ein zu gutes Geschäft war, um es sich entgehen zu lassen. Doch gegen Ende des Frühjahrs hatten sich angesichts des Zusammenbruchs der Firmen Enron, Worldcom, und Arthur Andersen diese Erwartungen verflüchtigt. Plötzlich zweifelte jeder die Richtigkeit der Finanzberichte amerikanischer Gesellschaften an. Plötzlich bemerkte jeder, wie sehr sich Amerikas System der Firmenaufsicht und Kontrolle im Zuge der "Seifenblasen"-Ökonomie der 1990er-Jahre verschlechtert hatte. Stumpfe Waffe Die US-Börse fiel um 15-20 Prozent hinter den Stand vom Winter zurück. Die Schere zwischen dem Zinssatz, zu dem die amerikanische Regierung Geld aufnehmen, und demjenigen, zu dem US-Firmen Geld leihen konnten, öffnete sich weiter. Und plötzlich hörte die FED auf, sich zu gratulieren: 1,75 Prozent mögen wohl der richtige Zinssatz zur Ankurbelung des Aufschwungs sein, wenn der Dow Jones bei 10.000 steht, aber nicht, wenn er bei 8500 angelangt ist. Während des Sommers blieben die Nachrichten über die Investitionstätigkeit der Unternehmen enttäuschend. Mehr und mehr Analytiker fingen an, über die Möglichkeit einer "Zwei-Stufen-Rezession" zu sprechen. Die US-Notenbank aber reagierte nicht. Die Zinssätze für kurzfristige Anleihen, für die sie zuständig ist, kamen nicht in Bewegung, erst Mitte August deutete die FED eine mögliche Senkung an. Inoffiziell wurden von der Notenbank zwei Gründe für ihre Untätigkeit genannt. Erstens: Die Zinssätze für Kurzzeitgelder seien schon so niedrig, dass jede weitere Senkung nur als vorübergehend angesehen werden würde. Folglich hätte so ein Schritt wenig Einfluss auf die Zinsraten bei den für die Ankurbelung von geschäftlichen Investitionen primär entscheidenden Langzeitgeldern. Zweitens: Bei einem derart niedrigen Zinsniveau würden weitere Senkungen die Finanzmärkte nur verunsichern. Wenn nämlich sogar die Notenbank der Ansicht sei, dass die Zustände weitere Zinssenkungen erfordern - so lautete die Überlegung -, dann würden die Firmen darauf nicht mit höheren Investitionen reagieren, sondern diese eher noch weiter drosseln. Insgesamt schien die Einschätzung der FED darauf hinauszulaufen, dass sie weitgehend (wenn nicht gar vollkommen) machtlos sei. Sie hatte alles versucht, was in ihrer Macht stand, doch die Hebel der Finanzpolitik griffen nicht mehr so stark ineinander, dass sie den Grad der wirtschaftlichen Aktivität bestimmen konnten. Auf diese Weise folgten die USA im Jahr 2002 Japan in das, was die Ökonomen seit 65 Jahren als "Liquiditätsfalle" bezeichnen: nämlich in eine Situation, in der der von der Zentralbank kontrollierte Zinssatz für Kurzeitgelder so niedrig ist und mit dem Niveau der Gesamtnachfrage derart lose verknüpft, dass sich weitere Zinssenkungen im Kampf gegen die Rezession als unwirksam erweisen. Diese Konstellation ist kein Einzelfall: Japan steckt seit Mitte der 90er in den Fängen der Liquiditätsfalle. Andere Beispiele aber hat es seit der Großen Depression der 30er-Jahre noch nicht gegeben. Ob Amerika jetzt tatsächlich in so einer Falle steckt, lässt sich natürlich nicht mit Sicherheit beantworten - ebenso wenig wie die Frage nach der Dauer des gegenwärtigen Zustands. Aber auch wenn wir erst am Rand einer Liquiditätsfalle stünden und selbst wenn es bald wieder vorwärts gehen würde, bleibt die Lage dennoch beängstigend. Wenn nämlich die Geld- politik sich als unwirksam er- weisen sollte, bleibt der US-Regierung, um ihre Wirtschaft wieder in den Griff zu bekom- men, nur noch der Hebel der Fiskalpolitik: indem sie Steuern und Ausgabepläne so ändert, dass dies die Gesamtnachfrage beeinflusst. Traurige Lektion Doch die Jahrzehnte seit dem Zweiten Weltkrieg haben uns gelehrt, dass die US-Regierung mit ihrer komplizierten, barocken, aus dem 18. Jahrhundert stammenden Organisation unfähig ist, die Politik schnell genug zu verändern, um die Steuerpolitik wirksam als Leitungsinstrument der Wirtschaft handhaben zu können. Es dauert ganz einfach zu lange, bis Änderungen der Steuern und Ausgaben ihren Weg durch den Kongress und die Bürokratie genommen haben. Ein in der Liquiditätsfalle gefangenes Amerika ist somit - schlicht und einfach - ein Land ohne wirksame Werkzeuge für das gesamtwirtschaftliche Management. Es gab seit dem Zweiten Weltkrieg zwei Phasen, in denen Politiker - jedenfalls in den USA - geglaubt hatten, das Rätsel der Konjunkturzyklen gelöst und gelernt zu haben, wie man eine moderne, industrielle oder nachindustrielle Wirtschaft steuert: Die erste Phase in den 60ern war ganz vom Keynesianischen Vertrauen in die Nachfragesteuerung bestimmt. Sie wurde mit der Inflation während des Vietnamkriegs und den Ölpreisschocks der 70er-Jahre unwirksam. Die zweite umfasste das Jahrzehnt der erfolgreichen Steuerung der Konjunkturzyklen durch Alan Greenspans unabhängige, apolitische und technokratische FED während der 90er-Jahre - und erweist sich nun offenbar als ebenso vorübergehend wie die erste. Falscher Optimismus Vor 80 Jahren behauptete John Maynard Keynes, dass Regierungen für Vollbeschäftigung und Preisstabilität die volle Verantwortung übernehmen müssten, dass die Zeit des Goldstandards vor dem Ersten Weltkrieg keineswegs jenes goldene Zeitalter gewesen sei, für das es die Leute vielfach gehalten hätten, und sich die Erfolge jener Ära nur dem glücklichen Zusammentreffen bestimmter Umstände verdanken, die sich so kaum wiederholen würden. Keynes war in seinem Glauben an den Staat und an die Fähigkeit von Regierungen, Konjunkturzyklen zu steuern, Optimist. Er wäre wohl ziemlich schockiert, könnte er sehen, wie die Welt heute aussieht: ein Europa mit unverändert hoher Arbeitslosigkeit, ein Japan, das seit einem Jahrzehnt in der Stagnation festsitzt - und ein Amerika, das keine politischen Instrumente mehr hat, um mit weiteren wirtschaftlichen Hiobsbotschaft umgehen zu können. *Der Autor lehrt Wirtschaftswissenschaften an der Universität Berkeley und war Mitte der 90er-Jahre stellvertretender Staatssekretär im US-Finanzministerium. (DER STANDARD, Printausgabe, 16.8.2002)