Wirtschaft
Ein "schlafender Agrarriese" wird geweckt
Agrarbevölkerung verdoppelt sich - Zahl der Verbraucher steigt um 105 Millionen Menschen
Wien - Die zehn mittelosteuropäischen Beitrittswerber zur EU
sind nach Jahrzehnten kommunistischer Planwirtschaft - selbst nach
dem politischen Umbruch vor mehr als zehn Jahren - noch immer
wirtschaftlich schwach, aber viel stärker agrarisch geprägt als
Westeuropa. Die Wirtschaftskraft aller Kandidatenländer gemessen am
BIP erreicht derzeit nur 4,5 Prozent jener der EU-15. Dagegen
übersteigt die Zahl landwirtschaftlicher Arbeitskräfte in den MOEL
mit rund 9,5 Millionen jene der EU-15 um 40 Prozent. Das geht aus dem
Wifo-Bericht zur EU-Erweiterung hervor. Etwa die Hälfte aller agrarischen Arbeitskräfte der MOEL-10
entfällt auf Rumänien, weitere 30 Prozent auf Polen. Die richtige
Erfassung der in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigen ist
jedoch besonders schwierig. Experten gehen davon aus, dass mindestens
die Hälfte aller der Agrarwirtschaft zugeordneten Arbeitskräfte -
oder rund 5 Millionen Personen - als mehr oder weniger "versteckt
arbeitslos" gelten könnten. In Rumänien, Bulgarien und Polen dürfte
dieser Anteil besonders hoch sein.
"Schlafender Agrarriese"
Die Beitrittsländer sind im Verhältnis zu ihrer Bevölkerungszahl
gut mit agrarisch nutzbaren Flächen ausgestattet. Je Einwohner steht
in den MOEL-10 doppelt so viel Ackerland und um fast zwei Drittel
mehr landwirtschaftliche Nutzfläche zur Verfügung als in der EU-15.
Dieses agrarische Potenzial wird jedoch nur zum Teil ausgeschöpft,
was dazu führte, dass Osteuropa oft plakativ als "schlafender
Agrarriese" bezeichnet wird. Mit der Erweiterung vergrößert sich die
EU-Agrarfläche um fast die Hälfte - von derzeit 137,3 auf 197,5 Mill.
ha.
Der hohe Agraranteil an den Beschäftigten und der hohe
Arbeitseinsatz je Flächeneinheit bedeuten aber geringe Effizienz und
niedrige reale Produktivität in der Agrarwirtschaft der
ostmitteleuropäischen Beitrittskandidaten: Gemessen am nominellen
Beitrag zum BIP je Beschäftigen erreicht die Arbeitsproduktivität in
der Landwirtschaft der zehn MOEL-Kandidatenländer im Durchschnitt nur
etwa ein Achtel des EU-Niveaus.
Spärliche Kapitalausstattung
Dies kann zwar teilweise auf die äußerst spärliche
Kapitalausstattung der Agrarbetriebe sowie den geringen Einsatz
ertragssteigernder Betriebsmittel zurückgeführt werden. Selbst unter
Berücksichtigung der niedrigen Erzeugerpreise dieser Länder bleibt
aber eine große Produktivitätslücke zwischen Ost- und Westeuropa
bestehen.
Die Umstrukturierung in der mittelosteuropäischen Landwirtschaft
ist noch lange nicht abgeschlossen, die Betriebsstrukturen sind von
jenen in Westeuropa sehr verschieden. In der Mehrzahl der MOEL wurde
mit Stand 1997 mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen
Nutzfläche von kleinen und mittleren selbstständigen Landwirten
(einschließlich Nebenerwerbsbetriebe) bewirtschaftet. Markante
Ausnahmen sind die Slowakei und Tschechien.
Transformierte Genossenschaften
In Ungarn, Tschechien, Bulgarien und in der Slowakei konnten die
so genannten transformierten Genossenschaften mit einem Anteil an der
landwirtschaftlichen Nutzfläche zwischen 28 und 60 Prozent bisher
eine bedeutende Position halten. In der Slowakei, Rumänien und
Litauen sind Staatsbetriebe noch stark vertreten. Bemerkenswert ist
laut Wifo-Studie ein relativ hohes Gewicht von Betrieben juristischer
Personen (Aktiengesellschaften, GesmbH und andere Rechtsformen) in
Tschechien, der Slowakei und in Estland.
Die Landwirtschaft in den Reformstaaten weist somit Vor- und
Nachteile auf. Während die MOEL reichlich mit Boden und billigen
Arbeitskräften ausgestattet sind, die im Vergleich zur EU trotz
niedriger Produktivität und schlechter Kapitalausstattung zu geringen
Kosten produzieren können, leiden die Kandidatenländer nach wie vor
an unterentwickelten agrarischen Institutionen, niedriger
Rentabilität und akutem Kapitalmangel. Den Kostenvorteilen steht auch
eine schwächere Qualität der erzeugten Agrarwaren und ein schwaches
Image gegenüber. Zudem gibt es Probleme in den der Agrarwirtschaft
vor- und nachgelagerten Wirtschaftszweigen. Weitere Nachteile sind
die schwache Infrastruktur und die niedrige Kaufkraft.(APA)