Chevy Chase - Sean Morrison und Geneviève Kruger waren überrascht: Dort hatten die Medizinforscher keine neuronalen Stammzellen mehr vermutet. Mit ihnen staunt die Forschergemeinde darüber, dass auch in den Verästelungen des Nervensystems noch solche Reservezellen lagern. Und das bei erwachsenen Tieren. Die gefundene Zellart ("neural crest stem cells") erwies sich in Laborkultur an der Uni Michigan als multipotent, also verschieden spezialisierbar. Konkret konnten die Zellen dazu gebracht werden, sich in Neuronen oder in Stützzellen des Nervensystems zu differenzieren (Neuron 35, S. 643, 657). Dabei zeigten sich unerwartet Unterschiede je nachdem, aus welcher Körperregion die Zellen stammten. So etwa waren Stammzellen des Ischiasnervs empfänglicher für das biochemische Kommando, sich in Stützzellen zu wandeln. Zellen aus dem Darm wurden dagegen mit Vorliebe Neuronen. Neue Therapiechance "Wir wissen nicht, was sie normalerweise im Darm machen", gesteht Morrison ein, "aber dieser Fund lässt Stammzellen möglich erscheinen, die sich um die Reparatur des peripheren Nervensystems kümmern - und das, ohne dass Zellen von außen verpflanzt werden müssen. Das eröffnet ein ganz neues, ungeahntes Spektrum an therapeutischen Möglichkeiten." Ob das auch für den Menschen gilt, ist unbekannt. "Wir wissen noch nicht einmal", sagt Forscher Morrison, "ob diese Zellen so auch beim Menschen existieren." Seine Untersuchungen in den Labors von Chevy Chase (US-Bundesstaat Maryland) stützten sich auf Stammzellen von Ratten, die in Hühnernerven verpflanzt wurden. Dabei stießen die Forscher auf eine weitere Erkenntnis. Zumindest in vitro hatten die verwendeten adulten (Nerven-)Stammzellen die meisten, aber nicht alle Eigenschaften von Nerven-Stammzellen, die den Ratten noch im embryonalen Stadium entnommen worden waren. So etwa konnten die adulten nicht dazu gebracht werden, sich in alle Arten von Nervenzellen zu entwickeln. Sean Morrison baut aus den verschiedenen Einzelbefunden gleich eine fast neue Therorie: Stammzellen spezialisieren sich demnach nicht allein gemäß der Signale aus ihrer Umwelt (die die Biomedizin gerne alle beherrschen würde), sondern auch aufgrund innerer Eigenschaften. Siehe die Ischiaszelle, die partout lieber eine Stütz- als eine richtige Nervenzelle wird, selbst wenn man sie mit den gleichen chemischen Faktoren stimuliert wie andere Stammzellen. (Roland Schönbauer, DER STANDARD, Print, 17./18.08.2002)