Inland
"Gemeindebauten für Zuwanderer öffnen"
Grazer Bürgermeister Stingl wagt sich an Tabuthema heran
Graz - Es ist ein heikles kommunalpolitisches Thema, das
der Grazer Bürgermeister Alfred Stingl jetzt im Vorfeld der
Gemeinderatswahlen 2003
diskutiert wissen will: die
Öffnung der Gemeindebauten
für Zuwanderer. Für Stingl ist
diese Forderung im Grunde
"eine Selbstverständlichkeit",
es sei "längst an der Zeit", darüber zu diskutieren.Der Grazer SPÖ-Stadtchef
im STANDARD-Gespräch: "Menschen, die zu uns kommen
und über ein Aufenthaltsrecht
verfügen, soll auch der Zugang zu städtischen Wohnungen, aber auch zu einer Arbeit
ermöglicht werden. Ich glaube, dass immer mehr Leute das
so sehen, dass jemand, der ein
Recht auf Aufenthalt hat, auch
ein Recht auf eine Wohnung
hat."
Der Großteil von ihnen
werde am privaten Markt ausgebeutet. Stingl: "Es liegt in
unserer Hand. Die Entscheidung, ob Ausländer in Gemeindewohnungen wohnen
sollen, können wir selbst entscheiden." Der Grazer Bürgermeister möchte das Punktesystem für die Zuteilung der
Wohnungen ändern. In einem
ersten Schritt sollten vordringlich Familien mit Kindern zum Zug kommen, "damit sie endlich aus den unakzeptablen Wohnbedingungen
herauskommen".
Eine Öffnung der Gemeindebauten hätte auch einen
wertvollen Verteilungseffekt,
argumentiert Stingl. Denn
momentan seien Zuwanderer
zumeist in einzelnen Bezirken
konzentriert, was Spannungen mit der ansässigen Bevölkerung heraufbeschworen habe. Diese Spannungen zu ignorieren oder zumindest nicht
zu thematisieren sei ohne
Zweifel ein historisches Versäumniss der SPÖ gewesen.
Die Sozialdemokratie habe
die Ängste der Menschen unterschätzt und zu spät erkannt, dass das Zusammenwachsen Europas ein mühsamer Prozess werde. Stingl:
"Das gegenseitige Verständnis
für die andere Kultur, die Religion und Sprache wird dauern. Die Menschen müssen sich aneinander gewöhnen
und täglich aufs Neue lernen,
miteinander umzugehen."
Der Grazer Bürgermeister,
der mit Ende der Periode aus
seinem Amt scheiden wird,
rechnet damit, dass es "zumindest eine Generation dauern wird, bis das Zusammenleben der Kulturen so etwas
wie Alltag wird".
Die Sozialdemokraten dürften in diesem Integrationsprozess aber "nie den Versuch
machen, mit Populismus zu
punkten". Stingl: "Die SPÖ
muss klar als solidarische und
soziale Konstante der Politik
erkennbar bleiben." Freilich:
Integration bedeute für Zuwanderer auch, Kompromisse
einzugehen. Der erste und wesentlichste: der Erwerb der
Sprache der neuen Heimat. (Walter Müller/DER STANDARD, Printausgabe, 22.8.2002)