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Foto: Reuters/ Mueller
Die alten Noten im Keller der überfluteten Semper-Oper in Dresden sind verloren, heißt es. Beschädigt sind sie allemal, aber vielleicht können ein paar Seiten der Notenhefte wieder lesbar gemacht werden. Denn Papier hält Jahrhunderte und wird von Wasser nicht gleich zerstört. Dieses Glück (im Unglück) werden Musikwissenschafter, Anthropologen und Historiker im Jahr 4000 nach Christus nicht haben, wenn sie unsere Verständniswelt dereinst ergründen mögen. Denn unsere Datenträger haben Alzheimer, ihre Lesetechniken leiden unter technologischer Infla- tion. Wir werden Rätsel aufgeben: Was haben wir auf digitalen Anschlagbrettern für Meinungen geäußert, was heftig im Chatroom diskutiert? Was ließen Mächtige verlauten, wie sehr fanden sie Widerhall? Wie hat sich die Zivilgesellschaft organisiert? Welche Bilder prägten Denken, Sprache, Kunst? Viele Dokumente der Just-in-time-Kommunikation des globalen Dorfs werden unauffindbar bleiben. Schon jetzt heißt es oft: File not found. Eben noch gespeichertes Wissen - schon für immer weg. Gelöscht und vergessen. Dass vieles im Netz nicht Wissen, sondern Schrott ist, stimmt zwar. Allein: Die Mechanismen, die unsere Geschichte und Gegenwart rasch verwischen, filtern nicht. Wir werden zur Generation Lücke. Eine Übertreibung? Dann legen Sie doch mal eine Fünf-ein-Viertel-Zoll-Diskette in Ihr Laufwerk. Weit und breit keins aufzutreiben? Wenn weder Hard- noch Software zur Diskette zu finden sind, sind die Daten Elektronikschrott, weniger aussagekräftig als verschlammte Noten oder rätselhafte Inschriften von Hochkulturen, die vor Jahrtausenden verschwanden. Die kann man, wenn schon nicht voll entschlüsseln, wenigstens noch sehen. Und vielleicht eines Tages ganz verstehen. Anders viele unserer Datenträger: Schon in zwanzig Jahren werden unsere Kinder Probleme haben, sich unser Hochzeitsvideo anzusehen (wie jene, denen bereits heute zu Videos des verblichenen Formates Betamax der Rekorder fehlt) - außer vielleicht im Technischen Museum. Selbst dafür brauchen die Kinder Glück. Denn welches VHS-Band übersteht zwanzig Jahre, ohne dass es sich zerfranst oder die Tonspur den Bildern vorauseilt? Das ist kein Problem von Familienvideos, Daten-Alzheimer behindert heute sogar die Forschung. Zumindest wenn niemand rechtzeitig aufs Überspielen und auf Kompatibilitäten schaut. Das Speichern von Wissen als Herausforderung ans Management, nicht nur an die Digitaltechnologie. Die bietet unbestrittene Vorteile gegenüber früheren Speichersystemen. So ist der Zugriff auf Computerdaten viel rascher und zielgerichteter möglich als auf die gleichen Daten in einem Notenheft oder Buch. Doch am Speichermanagement scheitern selbst Spitzeninstitute wie die Weltraumagentur Nasa. Sonst müsste sie nicht eifrig Uralt-Prozessoren suchen. Deren moderne Nachfolger passen nämlich nicht zu dringend benötigten Computersystemen. Schlimmer noch: Millionen Datensätze aus zig Jahren Raumfahrt zerbröseln buchstäblich zwischen den Fingern der Himmelsstürmer. Denn die Magnetbänder gehen den Weg alles Irdischen. Und das Vergessen könnte noch mehr weiße Flecken hinterlassen, denn die derzeitigen Datenträger sind sozusagen unbeschriebene Blätter, was ihre Lebensdauer anbelangt. Mangels Erfahrung wird etwa für Compactdiscs gerade eine Haltbarkeit von zehn Jahren garantiert. Länger sollte man seine Daten auch nicht einer Computerfestplatte anvertrauen, ohne vorher ein Back-up gezogen zu haben. Mikrofilm hält länger (bis zu einem halben Jahrtausend). Aber wer speichert schon seine Daten darauf? Oder auf Diapositiven (100 Jahre Haltbarkeit)? Und: Was sind das schon für Werte im Vergleich zum felsenfesten Gedächtnis in Höhlenmalereien und Hieroglyphen? (Roland Schönbauer, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23.8.2002)