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derStandard/Archiv
Ronald Pohl sprach mit Andrea Jonasson über Schicksale und die "moderne" Gefühlskultur.
Wien - Die materielle Katastrophe des Deichbruchs hat keinerlei Entsprechung im modernen Gefühlsalltag. Es sind in diesen Tagen einer tätig geübten Solidarität ausschließlich die Deiche, die Kronen tragen: Sandsack-Zacken, die von Hubschraubern als schaukelnde Fracht herabgelassen werden, um die Dämme zu erhöhen, welche die Siedlungen vor der Flut schützen sollen. Oft genug ermüdet der Wall, wenn nur genügend Wassermassen in zäher, geduldiger Arbeit am Deich geleckt haben. Dann sickern die Rinnsale durch den klatschnassen Sand und ergießen sich über die sorgsam gehegte Kulturlandschaft. Eine erhabene Seele, die sich von Gefühlen unbekannten Ausmaßes überflutet sieht, kennt keinen Schutzwall. Die inwendige Pein der Griechin Phädra ist auch nicht demokratisierbar: Zur Linderung ihrer Qual lässt sich kein Spendenkonto einrichten, keine Steuerreform aussetzen. Der Gemeinsinn zerschellt an ihrer Heimsuchung.

Nur der Franzosen-Klassiker Jean Racine gab Phädra 1677 zu sagen, was sie leidet: die Grimmen einer unerhörten, inzestuösen Liebe. Die hennarote Schauspielerin Andrea Jonasson sitzt in ihrer Garderobe im Wiener Volkstheater, wo sie ab 1. September, also überpünktlich zum Saisonauftakt, die Phädra gibt. Sie sagt: "Ich habe meine ganz private Flutkatastrophe bereits vor fünf Jahren erlebt: als Giorgo starb."

Strehlers Traum

Ihr Mann Giorgo Strehler war einer der größten europäischen Theaterregisseure: auf seine Art ein dämmebrechender Gott. Er glaubte mit kindlich überlaufender Freude an die Teilbarkeit von Theater- erfahrungen. Er tauchte, am Piccolo teatro und anderswo, neapolitanische Tratschkomödien so lange in ein gleißendes, flutendes, den Augen wohltuendes Licht, bis sie Weltereignisse geworden waren.

Strehler war der schlechthin großzügige Künstler. Er nahm die schöne, porzellanschimmernde Burg-Schauspielerin Andrea Jonasson unter seinen lebhaft schlagenden, italienischen Wehmutsfittich. Denn im Grunde kämpfte Strehler gegen das Verrinnen von Lebenszeit: "Er führte eine Liste", erzählt Jonasson, "auf der alle Projekte verzeichnet standen, die wir noch gemeinsam hätten ausführen sollen." In dieser riesigen Kolonne von Stücktiteln stand ganz zuoberst ein Name: Phädra, von Jean Racine.
Jetzt sitzt Andrea Jonasson, die Witwe des Künstlers mit Wohnsitz in Mailand, in einer Garderobe mit Blick auf den Weghuberpark. Sie hat sich auf der Probe das Knie angeschlagen, und sie sagt: "Ich befinde mich in einer Situation, wo ich alles in Zweifel ziehe. Das hat mit meiner persönlichen Lage zu tun. Aber man möchte im Grunde tätig werden." - Tätig sein: eine Wendung von Goethe. "Es reicht nicht aus, nur zu spenden - das tut man sowieso. Nein, am liebsten würde ich selbst beim Aufräumen mithelfen."

Und man stellt sich diese zarte Person vor, wie sie in einer Perlonjacke, in gelben Stiefeln mit dem Spaten schuftet, und es wirkt undenkbar und zugleich wunderschön.
Das Stück Phädra erzählt nicht nur vom Scheitern eines heißen Wahns; es kündet auch vom Sturz der Patriarchen. Theseus, Phädras königlicher Gemahl, hält sich vorwiegend als Dienstleistungsheld in der Ferne auf, wo er die Damen reihenweise in Verlegenheit bringt und dem Totengott dessen Gemahlin ausspannt.

Phädras Not hat somit eine hausgemachte Ursache: Sie ist unentwegt allein. "Sie kommt auf dumme Gedanken", lacht Jonasson. Sie hat den spröd-linkischen Stiefsohn Hippolytos vor Augen; an seinem Bild entzündet sich ihr Brand.

Des Lebens Müh'

In Troizene, dieser Außenstelle Athens, gibt es keine gewöhnlichen Bürger: gemeine Menschen oder tätige Personen, an denen man ein sozialverträgliches Maß nehmen könnte. Nur eine Hand voll edler Seelen, die von ihren klassizistischen Verssockeln herab ihr namenloses Leid wortflutend ausgießen: "Ich liebe, rasend, über alle Maßen!", lustschaudert Phädra.
Theseus' Verhalten nach seiner Heimkehr ist die eigentliche Katastrophe: Er schenkt falschen Einflüsterungen Glauben, stürzt Sohn und Frau in den Tod. Jonasson, die von Volkstheater-Direktorin Emmy Werner zum Wien-Comeback überredet wurde, leidet am Verschwinden der Patriarchen. Ihr ungesagter Satz heißt: Einen König müsste es geben, wie Strehler.

Ihr italienischer Präsident heißt zurzeit Berlusconi; der verkauft von Staats wegen gerade alle Patrimonialgüter, darunter die Capri-Villa des Kaisers Tiberius oder, in Jonassons Wohnstadt Mailand, das alte Gefängnis San Vittore. Um 20 Millionen Euro ist jeder Privatbieter dabei. Kulturanleger blättern in Kataster-Katalogen und gustieren vorausschmeckend die Proben einer zum Schlussverkauf stehenden Kultur.
Jonasson schüttelt den Kopf. Sie, die sich bei "Menschen für Menschen" engagiert und von ihren äthiopischen Reisen erzählt, von den Knochenfunden dort und vom durchdringenden Leichengestank in den Hungergebieten, hat unsere Kultur zu verabscheuen gelernt. Sie versteht nicht einmal, dass sie ihre Phädra-Verse im Volkstheater alltagsbetont sprechen soll ("Sonst können die Leute angeblich nicht folgen").
Wenn Giorgio noch da wäre, so hätte er nach der Phädra mit ihr ein schier unspielbares Stück gewagt: Shakespeares Antonius und Cleopatra, mit ihm selbst in der Rolle des liebenden Römers. Ein Patriarch, der sich sozusagen kopfüber in die seelische Unglücksflut stürzt.
Das Leben ist indes banaler: Es besteht aus Sandsäcken, aus Politikern in Gummistiefeln. Und aus Premieren.

(DER STANDARD, Printausgabe, 24.8.2002)