Zehn Jahre nach Rio verschwinden jährlich Waldflächen von der Erdoberfläche, die beinahe viermal so groß sind wie die Schweiz - dabei gelten insbesondere die Regenwälder in Afrika, Asien und Lateinamerika als Lungen der Welt. Zehn Jahre nach Rio setzen Länder wie Peru oder Ecuador immer noch auf den devisenträchtigen Export von Fischmehl und Shrimps - dabei trägt die Überfischung der lateinamerikanischen Küsten ebenso zum Artensterben bei wie die Zerstörung von Mangrovenwäldern durch die Garnelenzucht. Und zehn Jahre nach Rio hält China unbeirrt an einem auf Industrialisierung fixierten Entwicklungsmodell fest - dabei weiß jeder, dass das Weltklima ein paar weitere 100 Millionen Menschen, die ein Auto oder einen Kühlschrank ihr Eigen nennen, nicht vertragen könnte.Sind also die Ergebnisse von Rio 1992 und die tristen Perspektiven des Planeten Erde den Ländern des Südens schnuppe? Das wohl nicht, aber die Regierungen und insbesondere unabhängige Wissenschafter und Organisationen aus Entwicklungsländern, bewerten den Rio-Prozess offenbar etwa anders als viele Repräsentanten des Nordens, die derzeit an ihren Reden für den Weltgipfel feilen. So erinnert Archie Mafeje, Professor an der American University in Kairo, daran, dass es die Industrieländer sind, die für den bei weitem größten Teil der seit 1992 weitestgehend ungebrochen fortgesetzten Umweltzerstörungen und ihre Folgen verantwortlich sind: Allein in den USA, die nicht einmal bereit sind, das Kioto-Protokoll zum Klimaschutz zu unterzeichnen, verbrauchten vier Prozent der Weltbevölkerung 30 Prozent der Weltressourcen und erzeugten dabei über ein Viertel aller Luftschadstoffe. Dennoch, so Mafeje, würde momentan "nur den Armen erzählt, was sie zu tun und zu lassen haben". Tatsächlich sprechen sowohl der diesjährige Weltbank-Entwicklungsbericht als auch der Aktionsplan zur Umsetzung der Agenda 21, der im Juni auf der vierten Johannesburg-Vorbereitungsungskonferenz in Bali diskutiert wurde, vom Klimawandel oder dem Verlust der biologischen Vielfalt als Problemen, die vor allem von und in den Entwicklungsländern zu bekämpfen seien. Da lamentiert etwa die Weltbank über das Bevölkerungswachstum im Süden oder über mangelnde Gebäudeisolierungen. Diese leisteten nämlich in China einen wesentlichen Beitrag zur Energieverschwendung; ebenso wie die in weiten Teilen Asiens, Afrikas und Lateinamerikas in Millionen Haushalten verwendeten und mit Holz oder Kuhdung geheizten Kochgeräte. Sie machte der deutsche Direktor des Umweltprogramms der Vereinten Nationen (Unep), Klaus Töpfer, als Hauptursache der Luftverschmutzung aus. Kein Wunder, dass solche Analysen auf Unwillen stoßen: "Warum - fragt Archie Mafeje - sollen Umwelt und die Nachhaltigkeit der Lebensbedingungen lediglich ein Problem der Armen sein?" Warum und mit welchen Mitteln, so ließe sich seine Frage präzisieren, sollten ausgerechnet Länder wie China oder Peru, wo über die Hälfte der Bevölkerung mit einem Dollar pro Tag auskommen muss, die Zukunft des Planeten sichern? Globalisierungsexperten der in der Gruppe der 77 (G-77) organisierten Entwicklungsländer betonen denn auch die Armutsbeseitigung als Hauptziel von Johannesburg - leben doch zehn Jahre nach dem ersten Umwelt- und Entwicklungsgipfel immer noch weit über eine Milliarde Menschen in absoluter Armut. Dazu mahnten die Politiker und Wissenschafter bereits im September vergangenen Jahres den in der Erklärung von Rio verankerten Grundsatz der "gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortung" für Umwelt und Entwicklung an. Sie beklagen, dass von den in Rio veranschlagten 125 Milliarden US-Dollar, die der Norden jährlich zur effektiven Umsetzung der Agenda 21 im armen Süden hätte bereitstellen müssen, zu keiner Zeit die Rede sein konnte. Vielmehr haben die Aufwendungen für Entwicklungszusammenarbeit mit 0,22 Prozent des Bruttosozialprodukts der OECD-Länder sogar einen historischen Tiefstand erreicht. Weiter als solche Klagen über mangelnde Zuwendungen reicht die Kritik aus dem Süden von offizieller Seite indes meist nicht. Vor allem fürchten die Globalisierungsexperten der G-77 offenbar, dass ihre Länder weltwirtschaftlich noch stärker abgehängt werden. Nachdrücklich betonen sie nämlich, dass Umweltauflagen auf keinen Fall "protektionistisch" genutzt und "Entwicklungsländer und ihre Exportprodukte durch die Einbeziehung ökologischer Aspekte des Handels nicht bestraft werden sollten". Ein verständliches Anliegen - aber doch nur der Minimalkonsens einer Gruppe von Staaten, deren Interessen unterschiedlicher kaum sein könnten: Da steht etwa die Not der durch den Klimawandel buchstäblich vom Untergang bedrohten Inselstaaten der notorisch klima-ignoranten Position der Opec-Staaten oder den Ambitionen der nach der Asienkrise wieder Anschluss suchenden Tigerstaaten wie Malaysia oder Südkorea gegenüber. Es sind unabhängige zivilgesellschaftliche Gruppen und Organisationen, die in den Entwicklungsländern den Rio-Prozess viel schärfer aufs Korn nehmen als ihre Regierungen. Netzwerke wie "Focus on the Global South" aus Bangkok, das TWN (Third World Network) mit seinem Hauptsitz in Penang/Malaysia oder ELCI (Environment Liaison Centre International/Nairobi) erinnern daran, dass die Agenda 21 einmal die "nicht nachhaltigen Verbrauchs- und Produktionsmuster insbesondere in den Industrieländern" als Hauptursache für zunehmende Armut und Umweltzerstörung genannt hatte. Diese stellten daher ein nicht globalisierbares Wohlstands- und Wachstumsmodell dar, hieß es damals noch. Genau dieses Modell, so TWN-Direktor Martin Khor, dominiere heute aber weltweit: "Das Globalisierungsparadigma", sagt er, "hat in den 90er-Jahren das Nachhaltigkeitsparadigma von Rio ersetzt." An der Globalisierung kritisieren die Umwelt- und Entwicklungsaktivisten die universelle Durchsetzung der Marktwirtschaft, einseitige Handelsliberalisierungen, Exportorientierung und die weitgehenden Freiheiten für die großen multinationalen Konzerne. Im Zuge dieser Entwicklung seien Auflagen für Umweltschutz und soziale Gerechtigkeit insbesondere für die Länder des Südens zu lästigen Hemmnissen im Standortwettbewerb degradiert worden. Dementsprechend, das beobachtete Shalmali Guttal für "Focus on the Global South" beim Vorbereitungstreffen in Bali, kümmerten sich die dort versammelten Regierungsdelegationen aus Nord und Süd nur am Rande um die Erkenntnisse von Rio. Vielmehr seien sie peinlichst darum bemüht gewesen, Kollisionen des neuen Aktionsplans zur Agenda 21 mit den Paragrafen des Welthandelsabkommens der WTO zu vermeiden. Dahinter stehe die Überzeugung, dass die Globalisierung "zu einer wohltätigen Kraft" gemacht werden (UN-Generalsekretär Kofi Annan) und eine beschleunigte ökonomische Entwicklung auch Mittel gegen Armut und Umweltzerstörung freisetzen könne. Das wäre allerdings, erklärt die Wissenschafterin Yan Shao Loong (TWN), als würde man "Heilung von der neuerlichen Injektion einer Krankheit erwarten". Schließlich sei es ebenjene WTO-Politik der wachstumsorientierten Marktöffnung gewesen, die zur Verschärfung der ökologischen, sozialen und ökonomischen Krisen geführt habe, mit denen sich die Mehrzahl der Weltbevölkerung nun konfrontiert sehe. Gegen ein auf Wachstum fixiertes Entwicklungsdenken fordern die zivilgesellschaftlichen Organisationen die Prinzipien des "Geists von Rio" wiederzubeleben: soziale Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und die Beteiligung der Bevölkerung. Konkret wehren sich die Gruppen in ihren Ländern gegen eine industriell betriebene und auf Export zielende Nahrungsmittelproduktion oder gegen Großprojekte und -techniken wie den Bau riesiger Staudämme sowie Bio- und Gentechnologien. Einer ihrer Schlüsselbegriffe ist der vom "nachhaltigen Lebensunterhalt". Ihn stellen insbesondere Frauenorganisationen ganz bewusst dem der "nachhaltigen Entwicklung" gegenüber, denn weniger auf technischen Fortschritt und Modernisierung setzen sie, sondern auf eine Form der Ernährungs- und Existenzsicherung, der ein sorgsamer Umgang mit allen materiellen, sozialen und kulturellen Ressourcen zugrunde liege. Dazu zählen sie etwa eine kleinräumige Landwirtschaft auf der Basis angepasster Technologie und traditionellen Wissens. In Johannesburg käme es also für die Umwelt- und Entwicklungsorganisationen nicht darauf an, "um Veränderungen in diesem oder jenen Paragrafen des Aktionsplans zu ringen" (Sh. Guttal), sondern die Regierungen dazu zu bewegen, tatsächlich konkrete Initiativen zu ergreifen. Und dabei beharren alle kritischen Stimmen aus dem Süden darauf, dass die Industriestaaten endlich "umsteuern" und ihren eigenen Ressourcenverbrauch reduzieren. Bernardo Reyes vom Institut für politische Ökologie in Santiago de Chile jedenfalls verlangte nach einem vierwöchigen "Nachhaltigkeitstest" in Deutschland jüngst schon einmal die Einführung einer "Geburtenkontrolle für Autos". (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 24./25.8.2002)