Im kleineren Kreis, hinter vorgehaltener Hand, sieht die EU-Agenda erheblich anders aus. Die türkische Bevölkerung ist mit ihren bald 70 Millionen Menschen bereits jetzt größer als die Bevölkerungszahl der zehn Beitrittsländer zusammen, die ab 2004 dazu kommen sollen. Die Türkei wäre nach Deutschland das zweitgrößte EU-Land, was zwangsläufig die Gewichte in der Gemeinschaft verschieben würde. Doch die Türkei wäre nicht nur das zweitgrößte, es wäre auch mit Abstand das ärmste EU-Land.
Nach letzten Meldungen ist die Pro-Kopf-Verschuldung jedes einzelnen Türken im Moment höher als das jährliche Durchschnittseinkommen. Kam ein Einwohner der Türkei vor zwei Jahren durchschnittlich noch auf knapp 4000 Dollar, sind es nach eineinhalb Jahren schwerster Wirtschaftskrise gerade noch 2600 Dollar im Jahr. Notwendig für einen EU-Beitritt wäre aber ein genau umgekehrter Trend. Das niedrigste Einkommen innerhalb der EU wird derzeit in Griechenland und Portugal erzielt, liegt aber immer noch bei rund 12.000 bis 14.000 Dollar im Jahresdurchschnitt.
Will die Türkei auch nur eine kleine Chance haben, muss sie schon mindestens in die Nähe der 10.000-Dollar-Grenze kommen. Davon ist sie allerdings Lichtjahre entfernt. Die derzeit vom Internationalen Währungsfonds durchgesetzte Wirtschaftspolitik einer drastischen Drosselung der Staatsausgaben führt nun schon im dritten Jahr in Folge zu einem Minuswachstum.
Zwar verspricht der zurückgetretene Wirtschaftsminister Kemal Dervi¸s einen neuen Aufschwung nach einem notwendigen Strukturwandel, aber zunächst werden die Menschen immer ärmer. Dazu kommt noch ein enormes Gefälle im Land.