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Foto: APA/dpa/ Stephanie Pilick
Auf den ersten Blick ist es wie früher: Helmut Kohl steht massig am Rednerpult, hinter den Absperrungen stehen junge Leute und pfeifen. Aber wie viel sich geändert hat in den vergangenen vier Jahren, wird deutlich, als Kohl zu reden beginnt. Der 72-Jährige nuschelt noch mehr als früher und widmet sich fast völlig der Vergangenheit und seinem Platz in der Geschichte. Seine Sätze beginnen häufig mit der Formel: "Wer wie ich als Ministerpräsident und Bundeskanzler, 16 Jahre übrigens, die Gelegenheit hatte ..." Dann erzählt er von Gesprächen mit seinem Freund, dem französischen Staatspräsidenten Fran¸cois Mitterrand, der unmittelbar vor der Wiedervereinigung immer gesagt habe, die Deutschen würden es schon schaffen. "Sonst wären sie nicht die Deutschen." Und er vergisst an diesem Dienstagabend auf dem Platz vor dem Schöneberger Rathaus, an dem er am 10. November 1989 - einen Tag nach dem Mauerfall - seine berühmte Berliner Rede gehalten hat, auch nicht daran zu erinnern: "Schröder und die Genossen haben nicht mehr an die deutsche Einheit geglaubt." Er aber nicht - die Junge Union Neukölln erinnert mit ihrem Transparent, auf dem unter Kohls Konterfei steht: "Vater der Einheit!" Dann beschwört er auch den Pioniergeist der Nachkriegszeit. Diesem Beispiel gelte es zu folgen, und mehr Selbstständigkeit zu wagen, wendet er sich an die jungen Leute, die unter den rund 400 Zuhörern in der Überzahl sind: "Sie sind gute junge Leute, und sie sind auch deshalb so gut, weil wir sie erzeugt haben." Nach den ersten Lachern im Publikum setzt er noch eins drauf: "Manche meinen, man sollte diese Übung aufgeben. Aber davor warne ich, sonst brauchen wir gar nicht mehr über die Rente zu reden." Kohl genießt den Beifall sichtlich. Auch Konrad Adenauer wird zitiert: Von ihm habe "der junge Helmut Kohl gelernt, dass Wahlkampf aus zwei Worten Wahl und Kampf besteht". Deshalb gelte es zu kämpfen, denn: "Die, die es nicht können, müssen weg, und die, die es können, sollen jetzt ihre Chance haben." Fast beiläufig fügt er hinzu: Eine Stimme für die CDU sei "auch eine Stimme für Stoiber". Dann winkt er einmal wie früher ins Publikum, genießt die "Helmut, Helmut"-Rufe. Aber schon nach eineinhalb Minuten verebbt der Applaus. (DER STANDARD, Printausgabe, 29.8.2002)