Reise an die ukrainische Schwarzmeerküste und auf die Krim, zum Nikolausdom unweit der Hauptmoschee von Odessa. Das "Hotel London" mit, wie der Reiseführer meint, "zwei raffiniert gestalteten Laternen", steht, wie er meint, für die Anziehungskraft Odessas. Dafür steht eher ein Dichter: "Jetzt ist es Frühherbst, eine ausgezeichnete Zeit", schreibt Isaac Babel, "sonnig, still, die Urlauber sind abgereist." Aber Babel ist geblieben. Er lebte, Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie, auf der Modawenka, einer Vorstadt, die in den 20er-Jahren von Kleinkriminellen und windigen Geschäftsleuten geprägt war.Konstantin Paustowskij schrieb über ihn: "Mir war noch nie eine Mensch begegnet, der einem Schriftsteller äußerlich so wenig ähnelte wie Babel. Gedrungen und des ererbten Odesseer Asthmas wegen fast ohne Hals, mit Entennase und faltiger Stirn, kleinen ölig glänzenden Augen - er wirkte wie ein Makler und nicht wie einer, der schreibt." 1939 wurde Isaac Babel, jüdisch und - eine Variante von Stalins Todesurteilen - "ein Bohemien", in Odessa verhaftet, am 27. Januar 1940 erschossen. Nur eine Hoffnung bleibt: dass der starke weiße Portwein Sarosch oft davor seine Welt versüßt hat (Zuckergehalt 9,5 Gramm auf 100 Kubikzentimeter). Ein anderes Aroma entwickelten die Wiener Hausweine, die in den auf alten Fotos sichtbaren Hernalser "Etablissements" ausgeschenkt wurden. Die einzige mir bekannte "Aborigine" aus Hernals hat mir diesen Teil Wiens vertraut gemacht: Die zwölftjüngste Tochter eines Schusters, auf "Ludmilla" getauft, was sich erst langsam in "Melly" verwandelte, Melly Welzl. "Das schickt dir meine Mutter", sagte die neben mir in der Apothekenbuchstelle, wo wir zwangsverpflichtet waren, arbeitende Tochter der Melly Welzl und schob eine Tüte mit Darjeelingtee und Schokolade auf meinen Tisch. Allein das Wort "Darjeeling" löste fast Euphorien aus. Tee und Schokolade landeten im zugewiesenen Zimmer einer Wohnung im vierten Stockwerk an der Ecke Marc-Aurel-Straße zum Mor- zinplatz. Kurz darauf fielen auf das Haus gegenüber, auf die Gestapo, Bomben, und als ich daraufhin durch die Stadt lief, sagte ein Herr: "Strahlen Sie nicht, sonst werden Sie jetzt noch verhaftet." Melly Welzl nahm meine Mutter und mich bei Kriegsende in ihre winzige Eineinhalbzimmerwohnung in Hernals auf. Sie hätte auch dem Isaac Babel geholfen. Sicher: Hernals ist nicht Odessa, kein Meer brandet gegen das ehemalige "Offizierstöchter-Bildungsinstitut". Aber auf dem Weg hatte ich ein totes Pferd gesehen. Das gab einen ersten Satz: "Als Ellen aus dem Keller kroch, sah sie linkerhand ein totes Pferd." Und ich begann frühmorgens an Melly Welzls kleinem weißem Küchentisch - während sie mit ihrem Mann noch am Boden schlief, denn das Bett hatten sie uns überlassen -, Die größere Hoffnung zu schreiben. (DER STANDARD, Printausgabe, 30.8.2002)