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Foto: archiv
Der Nagel misst 5,2 Zentimeter. Er ist von Hand geschmiedet, rostig und stammt aus einem alten Steg im irischen Cobh. Die einstige Anlegestelle ragt heute nur mehr als armseliges Holzgerippe aus dem Wasser. Von den 11.000 Bewohnern Cobhs wird der Steg "Heartbreak Pier" genannt.

Für Millionen Auswanderer war dieser Steg der letzte Bodenkontakt mit der Heimat, für manche der letzte überhaupt. Genau hier gingen auch 123 Menschen an Bord zweier Barkassen, die diese letzten Passagiere der Titanic am 11. April 1912 zu dem Unglücksdampfer schipperten. Nur 44 von ihnen überlebten. Heute knarrt das windschiefe, mit Moos bewachsene Gerüst des Stegs vor Altersschwäche. Die Bodenlatten fehlen fast alle.

Gleich hinter dem Steg liegt das "Titanic-Queenstown-Restaurant". Hier wurden einst die Überfahrten bei der "White Star Line" gelöst. Gegenüber der Terrasse des Restaurants liegt eine Insel, die das irische Staatsgefängnis beherbergt. Vom Festland aus wirkt das Eiland wie ein Golfressort. Die kleinen roten Stahlschiffchen von der Gefängnisinsel machen am Steg neben dem Lokal fest, um Brot vom Festland für die schweren Jungs zu holen. Die Männer, die es steuern, sind in einem der Pubs verschwunden. Große schwarze Vögel picken die unzähligen Toast-Pakete an der Mole auf.

Cobh, das bis 1922 Queenstown genannt wurde, war und ist einer der größten und sichersten Naturhäfen der Welt, der sich bis zur Stadt Cork schlängelt, die 24 Kilometer entfernt liegt. Cobh ist Schifffahrtsgeschichte: Das erste Schiff, das ohne Windkraft den Atlantik überquerte, die Sirius, startete von hier aus seinen Trip über den großen Teich. In Cobh steht auch der älteste Yacht-Club der Welt, heute ein Museum und Artist-in-Residence-Center.

Cobh ist die Geschichte von Massenauswanderung, von Hungersnöten, von Sträflingstransporten nach Australien, aber auch vom englischen Haudegen Sir Francis Drake, der in diese Gegend kam, um sich und fünf Schiffe 1587 vor der spanischen Armada zu verstecken, die er ein Jahr später vernichtend schlug.

Genau genommen ist die Geschichte von Cobh eine einzige Abfolge von Kommen und Gehen. Mehr aber vom Gehen. Fast vier Millionen Iren verließen von hier aus ihre Heimat, die meisten, um der Armut zu entkommen. Eine von ihnen hieß Annie Moore. Auch sie berührte mit ihren Schuhen das Brett, das der kleine, rostige Zeitzeuge befestigte. Sie und ihre beiden Brüder waren die ersten Emigranten, die am 1. Januar 1892 auf Ellis Island in New York ankamen. Zwölf Tage waren sie auf der SS Nevada unterwegs. Eine Statue der drei Kinder steht am Pier von Cobh, dort, wo sie einst selbst auf die Abfahrt in die Neue Welt warteten.

Eine düstere Geschichte hat auch das in Sachen Größe und Prunk der Titanic sehr ähnliche Schiff namens Lusitania, das am 7. Mai 1915 vor der Küste von Cobh vom deutschen U-Boot U 20 torpediert wurde. Als sich der 232 Meter lange, verwundete Schiffsriese nach unten neigte, berührte er den 90 Meter tiefer gelegenen Meeresboden, während sein Heck hoch über das spiegelglatte Meer hinausragte. 1198 Menschen sind unter Umständen umgekommen, die sich nicht unwesentlich auf den Kriegseintritt der USA auswirkten. 169 Opfer sind am alten keltischen Friedhof von Cobh begraben worden.

Sehr gut dokumentiert und präsentiert wird diese ganze Geschichte im so genannten Heritage Center von Cobh, der ehemaligen Abfertigungshalle für Emigranten. Die Ausstellung im Museum zeigt historisches Material, Fotos, Filme, Pläne, Modelle, Zeitungsausschnitte und wird zur Zeitmaschine für alle, die sich für Schifffahrt interessieren.

Supermarkt-Atmosphäre herrscht im Shop des Museums. Hier überkommt einen schnell das Gefühl, die Titanic sei mit ihren Passagieren nicht ihrem Untergang entgegen, sondern direkt nach Hollywood gefahren. Titanic auf T-Shirts, Bechern, Tellern, Hüten und Weinflaschen. Ramsch, der mit der Titanic so viel zu tun hat wie Leo DiCaprio, dem ein rostiger Nagel vom "Heartbreak Pier" unzählige Schiffslängen an Authentizität in Sachen Titanic voraushat.

Mit Souvenirs beladen, steigen die Touristen, vorwiegend US-Amerikaner, wieder in ihren Bus und rauschen vorbei an dem traurig wirkenden Steg, über den einst so mancher ihrer Vorfahren die Heimat für immer verlassen hat. (Michael Hausenblas/DER STANDARD, Printausgabe)