Wien - Können Tote noch eine Botschaft schicken? Bezogen auf die Ermordeten in der KZ-Topografie des Terrors gewinnt diese Frage schnell einen Ernst, dem mit Verweis auf Geisterglauben nicht beizukommen ist. Wurde über sie nicht schon alles gesagt, von anderen? Wurde nicht die Struktur der Lager und der Befehle in der Zeitgeschichte, wurde nicht die Opferperspektive in der amerikanischen Holocaust-TV-Serie Ende der 70er-Jahre behandelt? Auch Differenzierteres, neue Problemstellungen, kamen in den letzten Jahren auf: im Dokumentarfilm das sich aufbäumende Opfer (Jehuda Lerners Gruppe in Claude Lanzmanns Sobibor, 2001); oder auch das zur Mittäterschaft gezwungene Opfer, das Aleksandar Tisma in seinem Roman Kapo (1995) in den Mittelpunkt rückt. Ein Grundproblem bleibt aber immer: Sprechen können nur Überlebende. Riesige Interviewprojekte versammeln deren Stimmen, allzu oft aber - wie im von Steven Spielberg initiierten Shoah-Projekt - nach standardisierten Fragen. Tote sprechen nicht. Sie können uns aber etwas zeigen: Fotografien. Aufnahmen aus dem Leben vor ihrer Ermordung: ein Leben mit Ausflügen, Hoffnungen, Freundschaften, gewaltsam abgebrochene Versuche von Normalität. Ein im jüdischen Museum präsentiertes Buch - Vor der Auslöschung. Fotografien gefunden in Auschwitz (Hg. v. Kersten Brandt, bei Kehayoff, München) - erweckt mit seinen 2400 Privatfotografien diese Leben unbekannter Menschen neu, Menschen aus einer unbekannten Stadt namens Bedzin, 40 Kilometer nordwestlich von Auschwitz: Dorthin wurden sie deportiert, dorthin hatten sie ihre persönlichen Erinnerungen an ein anderes Leben in Form von Familienfotografien mitgenommen. Zum Glück "vergessen" Dass diese Sammlung erhalten blieb, ist ein Zufall, denn alle persönlichen Gegenstände von Juden wurden von Lagerverwaltungen ins Reich verschickt und dort an Organisationen und Privatpersonen verteilt. Und alle persönlichen Erinnerungsstücke, primär mitgebrachte Fotografien, wurden von Sonderkommandos verbrannt. Diese Fotos hier aber wurden offensichtlich vergessen. Sie sind nach dem Krieg aufgetaucht und in Auschwitz ausgestellt. Jetzt versammelt sie der Bildband vollständig. Das Besondere an dieser Sammlung ist, dass diese Fotos unterschiedlicher Familien aus den 20er- und 30er-Jahren Lebenswelten zeigen, die gerade nicht "besonders" sein wollten, also auch nicht das, was Juden als "Juden" für Antisemiten wie später auch für Philosemiten heraushebt. Auf diesen Fotos ist ein Bub in kaiserlicher Uniform zu sehen, ein Vater auf einem Traktor, eine Bergsteigergruppe, Ausflüge, Familienfeiern. Und dennoch wird all dies durch die spätere Geschichte enorm gebrochen: Familienfotografien dienen ja bis heute den meisten Familien zur Festigung der Gruppenidentität; und gerade die unprofessionelle Fotografie von "Knipsern" betont den privaten Augenblick. Hier aber wurde das Private im öffentlichen Raum der Geschichte vernichtet, Identitäten wurden - sichtbar in den eingebrannten Nummern der Lagerinsassen - geraubt. So zerbricht im Rückblick auch jedes Bild einer "heilen Welt" auf diesen Fotos. Nach dem Überfall auf Polen ändert sich auch die "Backstage" dieser Privatfotografien: Wo vorher Gründerzeitfassaden, Hauptstraßen und Parkanlagen zu sehen sind, tauchen jetzt Straßen am Stadtrand auf: das Getto. Gleichzeitig nehmen die Hochzeitsfotos zu, denn im Getto heirateten viele Paare, weil dadurch die Männer vorläufig vor der Deportation geschützt waren. Kurze Momente der Hoffnung also. Seltsam: Die Menschen auf diesen Fotos erscheinen so gegenwärtig, gar nicht "weit weg". Warum? Weil der Raum, in dem sich diese private Wahrnehmung abspielte, vergleichbar ist: Familien, Ausflüge. Gerade deshalb aber wird das Zerreißen dieses Raumes so stark bewusst: Fotos und Hoffnungen, zerrissen und ausgefranst. (Richard Reichensperger/DER STANDARD, Printausgabe, 19.9.2002)