Bild nicht mehr verfügbar.

Foto: APA/Tesarek
Manchmal geht der Tod eines Menschen weit über ihn selbst hinaus. Es stirbt etwas anderes mit: eine Familienlinie, eine Theorie, eine religiöse Überzeugung, eine Sprache. Auch mit Heinz von Foerster stirbt etwas anderes mit, das sich als eine besondere Form der Wissenschaftskultur bezeichnen ließe, die für eine ganze Generation von zumeist bürgerlichen Wissenschaftern und Intellektuellen charakteristisch wurde, die in Wien zwischen 1900 und 1920 die Schule und die Universität besuchten und die an den künstlerisch-wissenschaftlichen Umbrüchen jener Zeit regen Anteil nahmen. Heinz von Foerster selbst bemühte dafür den Begriff des speziellen "Denkstils", in den er durch Familie - seine Mutter ist Künstlerin im Wien des Fin de Siècle, sein Vater Elektroingenieur in einer Dynastie von Architekten - ohne viel eigenes Zutun hineinverwoben wurde und der sich unter anderem darin manifestierte, dass er schon als 15-Jähriger Ludwig Wittgensteins Tractatus logico philosophicus auswendig hersagen konnte. 1987 war anlässlich eines großen Symposiums zur wissenschaftlichen Emigration unter dem Titel Vetriebene Vernunft eine größere Anzahl dieser "Denkstile" nochmals in Wien versammelt: Bruno Bettelheim, Ernest Dichter, Herman Mark, Viktor F. Weisskopf, Hans Zeisel, um nur einige zu nennen. Mit dem Tod von Erwin Chargaff im Juni dieses Jahres und nun von Heinz von Foerster sind wahrscheinlich die letzten dieser besonderen Denk-Art nicht mehr zugegen. Stil, so Heinz von Foerster, stammt aus dem griechischen Wort für "Griffel, Graviernadel, Schreibstift - ein Werkzeug, um Eintragungen auf Stein, Holz, Papier etc. zu machen". Und es lassen sich retrospektiv einige Besonderheiten benennen, worin sich dieses Wiener Werkzeug von den seinerzeitig anderen oder den heutigen unterscheidet. Eines seiner zentralen Merkmale liegt in der Bedeutung, die man der Sprache beimisst. Am sinnfälligsten tritt diese Wendung zur Sprache beim Wiener Kreis der 20er- und 30er-Jahre zutage, worin sich die schlichte Frage nach der Bedeutung von Aussagen zu einem veritablen Erdbeben für überkommene Denkgebäude auswuchs. Aber auch bei vielen anderen - bei Ludwig von Bertalanffy, Friedrich von Hayek, Maria Jahoda, Karl R. Popper oder Heinz von Foerster - war mit dem Denkstil ein eigener Sprachstil verbunden, der noch heute durch Einfachheit und Klarheit besticht. Darüber hinaus besaß dieses Werkzeug eine besondere Form, nämlich einen jeweils eigenen Bausatz von Modellen für die jeweiligen Problembearbeitungen. Die österreichische Nationalökonomie entwickelte eine hoch komplexe theoretische Entscheidungs- und Handlungstheorie, die sie in alle Gebiete menschlicher Gesellschaften hinein verfolgte. Der seinerzeitige Wiener Kreis unternahm es, unter dem Titel "Einheitswissenschaft" eine neue sprachlich-methodologische Plattform für die gesamten Wissenschaften zu entwickeln. Und Heinz von Foerster verfügte über ein Repertoire an vornehmlich physikalischen Modellen, die er schwerelos auf die diversen Gebiete anwendete. So ent-stand sein erstes Buch Das Gedächtnis (1948) aus dem Bemühen, psychologische Experimente zum Thema Lernen und Vergessen "durch die quantisierten Mikrozustände der Materie zu erklären". Ein weiteres Merkmal dieses Denkstils liegt in seiner stillen Radikalität, die mit Begriffen wie Originalität oder Kreativität nur ungenügend eingefangen wird. Heinz von Foerster gebrauchte selbst den Begriff der "Inversion" von eingefahrenen, verfestigten Überzeugungen: "Die beste Propaganda für eine Idee ist für mich: Die Orthodoxie marschiert zur Tür hinaus." Nichtspezialisierung Fast wäre man versucht, diesen Denkstil als die sublimierte Version der in der Donaumonarchie fehlenden bürgerlichen Revolutionen zu bezeichnen. Gerade im Oeuvre Heinz von Foersters finden sich vielfältige Arbeiten im Bereich der Gedächtnisforschung, der neuronalen Netz-werke oder der Rekursions-theorie, wo die Orthodoxie seit den 50ern immer wieder zur Türe hinausmarschierte. Zu diesem Denkstils gehörte es auch, dass er wie von selbst Spezialisten der Nicht-spezialisierung erzeugt. Heinz von Foerster konnte man überall treffen: im Umfeld der Kybernetik und der Kognitionswissenschaften, in der Biologie und Physiologie, im Kreis von Therapeuten, bei Theoretikern der Soziologie, vornämlich bei Niklas Luhmann, in der Organisationsforschung, in der Bewegungstherapie, beim Tanztheater. Das Seltsame dabei: An keinem Platz wirkt das deplatziert, sondern scheint immer schon im Kern dazuzugehören. Mit dem Tod Heinz von Foersters in seinem Haus in Pescadero/Kalifornien ist nun dieser Denkstil, dieses "Werkzeug für Eintragungen auf Stein, Holz und Papier", vollends außer Gebrauch geraten und nur mehr implizit über ebendiese Eintragungen auf Papier der Nachwelt erhalten. Karl H. Müller ist Gründungsmitglied der Wiener Heinz-von-Foerster-Gesellschaft. (Karl H. Müller/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4. 10. 2002)