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Foto: APA/AFP/Odd Andersen
Wenn die Iren am Samstag ein zweites Mal über den Erweiterungsvertrag von Nizza abstimmen, dann erscheint das vielen als Demonstration jenes demokratischen Geistes, der anderen EU-Bürgern vorenthalten wird. In Wirklichkeit aber ist das irische Referendum eine Perversion der Demokratie - und unterstreicht die Notwendigkeit einer weiteren EU-Reform. Denn unter der nur teilweise realistischen Annahme, dass ein irisches Nein die Erweiterung aufhalten kann, würden in diesem Fall knapp vier Millionen Menschen eine Entscheidung fällen, die insgesamt 445 Millionen Menschen betrifft. Wohl könnten alle 15 EU-Staaten ihre Wähler befragen, doch wäre dies der Todesstoß für die Erweiterung: Das Nein eines einzigen Landes würde den Vertrag von Nizza verhindern. Daher gerät die EU in die peinliche Lage, sich vor dem Votum eines Mitgliedsstaates überlegen zu müssen, wie dieses später umgangen werden kann. Auch wenn Brüssel die Existenz eines "Plans B" zur Durchsetzung der Erweiterung nach einem irischen Nein offiziell bestreitet - es gibt ihn, und er wird auch im Ernstfall zur Anwendung kommen. Die EU würde sich sonst selbst entmündigen. Die einzig sinnvolle Form direkter Demokratie bei europapolitischen Fragen wären EU-weite Referenden, bei denen das Gesamtergebnis über Annehme oder Ablehnung entscheidet. Doch ein solches Instrument ist rechtlich unmöglich. Die Union ist kein Bundesstaat mit einem souveränen Staatsvolk, sondern ein Staatenbund, der auf zwischenstaatlichen Verträgen beruht. Damit es in dieser Struktur zu Entscheidungen kommt, müssen Regierungen mühsame Kompromisse aushandeln und dabei so manche nationale Interessen opfern. Solche realpolitischen Deals sind innenpolitisch oft schwer zu verkaufen; wenn stets - wie etwa in der Schweiz - das Volk befragt werden müsste, gebe es praktisch keine gemeinsame europäische Politik. Demokratie und Hand-lungsfähigkeit schließen einen in einem Staatenbund daher aus. Da die EU aber handlungsfähig sein muss, weil schließlich weite Teile der Politik bereits vergemeinschaftet sind, wird das oft getadelte "demokratische Defizit" unvermeidbar. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma ist die Weiterentwicklung der Union zu einem Bundesstaat, in dem nicht mehr die Mitgliedsstaaten, sondern gewählte gesamteuropäische Institutionen die wichtigen Entscheidungen fällen. Doch genau das, glaubt man Meinungsumfragen, wird von den meisten EU-Bürgern abgelehnt. Auch der föderalistisch geprägte Konvent wird sich davor hüten, ein bundesstaatliches Verfassungsmodell vorzuschlagen. Denn dieses wäre bloß Makulatur. Das irische Dilemma zeigt eine weitere Schwachstelle in Europas heutiger Architektur - die Macht der kleinen Staaten. Gerade österreichische Politiker fordern allzu oft in einem Atemzug mehr europäische Demokratie und die Wahrung der Interessen kleiner Staaten. Doch wahre Demokratie würden bedeuten, dass sich Stimmgewicht und Vertretung der Mitgliedsstaaten stärker nach der Bevölkerungszahl richten, dass 80 Millionen Deutsche deutlich mehr Gewicht haben als acht Millionen Österreicher. Wenn große EU-Staaten sich gegen die Mehrheit stemmen, dann vertreten sie zumindest eine kritische Masse an Bürgern. Doch wenn Luxemburg und Österreich eine einheitliche Zinsbesteuerung blockieren, oder Irland die Erweiterung, so ist das Kleinstaaterei der schlimmsten Sorte. Bei etwas Glück wird Irland, das der EU den Weg vom Armenhaus zur Wohlstandsinsel verdankt, nicht den Osteuropäern die gleiche Chance verwehren. Tun sie es doch, wird Brüssel einen Ausweg tricksen. Die Zitterpartie vor dem Referendum macht jedenfalls deutlich, dass die EU nicht das völkerrechtliche Zwitterwesen bleiben kann, das sie heute ist. Gerade weil die EU dringend demokratische Legitimität benötigt, muss sie föderalistischer werden - trotz des Zweifels vieler Bürger. (DER STANDARD, Printausgabe, 18.10.2002)