Russland
Tschetschenien
Krisenherd seit Zerfall der Sowjetunion
Wien - Als der russische Präsident Boris Jelzin nach dem
gescheiterten Putsch gegen Michail Gorbatschow auf dem Gipfel seiner
Macht und seines Ansehens stand, fügte ihm im Oktober 1991 ein
kleines Volk im Kaukasus seine erste empfindliche politische
Niederlage zu: Unter der Führung ihres Präsidenten Dschochar Dudajew
traten die Tschetschenen aus der Autonomen Sowjetrepublik
Tschetscheno-Inguschetien aus und proklamierten die Unabhängigkeit
von Moskau als "Republik Itschkeria". Jene Region des Kaukasus, in der das heutige Tschetschenien liegt,
wurde erst 1859 vom zaristischen Rußland annektiert. Nach der
Oktoberrevolution wurde 1922 das Autonome Gebiet der Tschetschenen
und 1924 das Autonome Gebiet der Inguschen geschaffen. 1944 wurden
Tschetschenen und Inguschen auf Befehl Stalins wegen angeblicher
Kollaboration mit der Deutschen Wehrmacht deportiert. Zehntausende
Menschen starben.
Unabhängigkeit
Unter Nikita Chruschtschow wurden die Tschetschenen und Inguschen
rehabilitiert und erhielten 1957 eine Autonome Sowjetrepublik. Diese
lösten die Tschetschenen mit ihrer Unabhängigkeitserklärung 1991
praktisch auf. Im April 1992 anerkannte der russische
Volksdeputiertenkongress notgedrungen Inguschetien, das stets
Moskau-treu geblieben war, als eigenes Subjekt der Russischen
Föderation an - und damit implizit auch Tschetschenien.
Nach seiner Unabhängigkeitserklärung stellte Tschetschenien jede
Mitarbeit in föderativen Angelegenheiten in Moskau ein. Die Republik
galt bald als Rückzugsgebiet verschiedener Mafia-Clans und des
organisierten Verbrechens. In mehreren Konfliktherden im Kaukasus
mischten die Tschetschenen in den neunziger Jahren durchaus prominent
mit. Nach mehreren misslungenen Destabilisierungs- und
Anschlagsversuchen auf Dudajew als "Vater der tschetschenischen
Unabhängigkeit" marschierte die russische Armee im Dezember 1994 in
Tschetschenien ein. Der vom damaligen Verteidigungsminister Pawel
Gratschow als "Spaziergang" bezeichnete Krieg wurde zu einem
Desaster, das zehntausende Menschenleben forderte. Erst im August
1996 wurde eine Waffenruhe unterzeichnet.
Aber selbst mit diesem brutalen Krieg ist es Russland nicht
gelungen, den Unabhängigkeitswillen der rund eine Million
Tschetschenen zu brechen. Das Land um die Hauptstadt Grosny ist im
Süden gebirgig und im Norden flach. Durch Tschetschenien läuft eine
wichtige Ölpipeline, mit der Erdöl aus dem Kaspischen Meer nach
Russland transportiert wird. In Grosny befindet sich seit
sowjetischer Zeit eine große und strategisch wichtige Raffinerie, die
während des ersten Tschetschenien-Krieges wiederholt angegriffen und
auch nun wieder zum Ziel russischer Bomber wurde.
Die Unabhängigkeit Tschetscheniens hat Moskau nie anerkannt. Doch
heute gibt es auch keine Perspektive auf eine Kompromisslösung mit
weitreichender Autonomie oder ähnlichen Zugeständnissen. Im Herbst
1999 begann der zweite Krieg um die Republik. Mit dem raschen
Vordringen der russischen Armee ist der Aufstieg des Wladimir Putin
vom politischen Nobody zum machtvollen Präsidenten der Russischen
Föderation untrennbar verbunden. Putin hat diesen Krieg, den er eine
"Spezialoperation zur Bekämpfung des Terrorismus" nennt, mit aller
Gewalt begonnen - als Vergeltung für angeblich von Tschetschenen
verübte Bombenanschläge in Zentralrussland. Doch er hat auch nach
drei Jahren keinen einzigen längerfristigen Lösungsansatz zu erkennen
gegeben. Auch wenn die russische Armee heute einen Großteil des
Landes kontrolliert - das Problem Tschetschenien bleibt ungelöst. Die
jüngste Aufsehen erregende Geiselnahme in einem Moskauer Theater hat
den weiter schwelenden Konflikt schlagartig ins Bewusstsein der
Weltöffentlichkeit gerufen. (APA)