Sehr geehrter Herr Premierminister, in Ihrem Schreiben an die Globalisierungskritiker versuchen Sie eine Ehrenrettung des Freihandels. Sie geben zu, dass die Reichen reicher und die Armen ärmer werden, machen dafür aber nicht den Freihandel, sondern seine unvollständige Durchsetzung verantwortlich. Erst eine wirkliche Liberalisierung vor allem des Agrarhandels würde, so Ihr Argument, den armen Ländern Entwicklung ermöglichen.

Herr Premierminister, Sie irren. Natürlich stellen Protektionismus und Subventionen in den reichen Länder eine Verzerrung des Wettbewerbs dar. Aber die Ursache für die Vertiefung der Kluft zwischen Arm und Reich sind sie nicht. Ihr Vorschlag, die Armut mit einer Liberalisierung des Agrarhandels zu bekämpfen, geht schon deshalb ins Leere, weil Ihre Unterstellung, die armen Länder wären Agrarländer, falsch ist.

Laut Weltbank macht der Agrarsektor in den "low" und "middle income countries" (also dem, was gemeinhin Dritte Welt genannt wird) nur zwölf Prozent der Wirtschaftsleistung aus, während die Industrie bei 35 Prozent des BIP liegt. Damit ist die Industrie in der Dritten Welt relativ gesehen sogar wichtiger als in den reichen Ländern (30 Prozent des BIP). Auch hinsichtlich des Handels sind die armen Länder zu Industriestaaten geworden. Die Dritte Welt exportiert nämlich nicht primär Agrargüter, sondern Industriewaren, die 69 Prozent ihrer Exporte ausmachen (bei stark steigender Tendenz). Die Landwirtschaft spielt also in den armen Ländern eine viel geringere Rolle, als Sie suggerieren. Ihre Behauptung, die Liberalisierung des Agrarhandels würde Entwicklung ermöglichen, baut aber nicht nur auf falschen Grundlagen auf, sie ist in Wahrheit kontraproduktiv. Zwar besetzen manche Dritte-Welt-Länder mit traditionellen (z. B. Kaffee) oder neuen agrarischen Exporten (z. B. Frischobst) Marktnischen in der Ersten Welt, und ein Wegfall des Protektionismus der reichen Länder würde ihre Chancen erhöhen. Aber würde das – abgesehen von der ökologischen Problematik der weiten Transportwege – wirklich Entwicklung fördern?

Ich meine, nein. Den gesteigerten Exporten von Frischobst, Wein oder Schnittblumen steht nämlich gegenüber, dass die Produktion von Grundnahrungsmitteln wie Weizen, Reis, Mais oder Bohnen in vielen Dritte-Welt-Ländern gegenüber den Importen aus den USA und der EU nicht konkurrenzfähig ist. Die Welternährungsorganisation FAO hat etwa für Mexiko errechnet, dass unter den Bedingungen des freien Handels nur ein Viertel der bebauten Fläche wettbewerbsfähig ist. Und tatsächlich, seit dem Inkrafttreten des Freihandelsvertrages mit den USA, wird auf den guten Flächen zunehmend Exportobst und -gemüse gebaut, während der Rest stagniert oder gar verfällt. Folglich hat sich der Anteil der landwirtschaftlichen Erwerbsbevölkerung auf 16 Prozent halbiert, ohne dass ausreichend Ersatz im Sekundär-oder Tertiärsektor geschaffen worden wäre.

Die am Land überflüssig Gemachten wandern ab – in den informellen Sektor der Städte oder als "nicht dokumentierte" Immigrant/innen in die USA.

Außerdem ist als Folge der Penetration durch US-Importe die landwirtschaftliche Handelsbilanz stark negativ geworden, und zwar vor allem bei Grundnahrungsmitteln. Mexiko ist durch den Freihandel also ärmer geworden – und zudem abhängiger.

Waffe der Starken

Schließlich fördert der Freihandel die Bildung von Produktionsenklaven in der Dritten Welt, die trotz ihres Booms keine positiven gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen zeitigen. Ob in der Landwirtschaft oder in der Industrie, die Exportenklaven sind von transnationalen Unternehmen dominiert, sie weisen eine nur geringe Wertschöpfung auf und bringen deshalb auch keine Lern- und "Trickle-down"-Effekte für den Rest der Ökonomie. Folglich profitieren von einer Ausweitung des Freihandels nicht die Länder (oder gar die Menschen) selbst, sondern die in Enklaven operierenden Konzerne.

Wem, Herr Premierminister, hat das Einlenken der Europäischen Union im "Bananenkrieg" mit den USA wohl mehr gebracht – den Armen in Honduras oder der United Fruit Company?

Herr Premierminister, der "Konsens für Entwicklung", den Sie – und ich – für notwendig erachten, findet sich nicht im Freihandel. Der ist – und war es historisch immer schon – eine Waffe der starken Ökonomien gegen die schwachen. Der Freihandel hat nicht, wie Sie meinen, "soziale Defizite", die behoben werden könnten; er schafft vielmehr Probleme, die nur durch eine gerechtere Reregulierung der Weltwirtschaft gelöst werden können.(DER STANDARD, Printausgabe, 6.11.2002)