Moskaus U-Bahn schafft die Menschenmassen nur schwer. Vor der Rolltreppe drängen sich Hunderte. Vier Rolltreppen hat man in dieser Station gebaut, um die Leute einigermaßen zügig nach oben und unten zu befördern. In Betrieb sind auch an diesem Tag wieder nur zwei. Den Russen ein gewohntes Faktum, dem westlichen Beobachter ein unverständlicher Zustand, zumindest die Frage an die Aufseherin wert, warum denn nicht auch die zwei anderen Rolltreppen eingeschaltet werden. "Sie arbeiten ja auch nicht den ganzen Tag", pariert die ältliche Frau. Eine Frage - eine originelle Antwort, Informationswert gegen null. Erkenntniswert: "Warum?" fragt nur der Uneingelebte.

"Ich vertraue darauf, dass Sie diskret mit meinen Aussagen umgehen. Wissen Sie, man weiß nie, welche Zeit wieder kommt." Die 80-jährige Natascha hatte letztlich doch zu einem Interviewtermin eingewilligt und den ganzen Tag von ihren Jahren im stalinistischen Arbeitslager erzählt, wie sie es überlebt hat und wie sie mit den Erfahrungen aus den menschlichen Abgründen lebt. Im Gespräch in der Moskauer Kleinwohnung kommentiert sie gelegentlich die Gegenwart. Jeder Satz ist wohlüberlegt, zurück hält sie sich nicht. Dass Putin kalte Augen hat, haben ihre in geheimdienstlichen Verhören sensibilisierten Augen wahrgenommen. "Heute geht es wieder bergab mit den Hoffnungen. Ich habe keine, es ist traurig." Die Bitte um Diskretion bezieht sich auf die gegenwartsbezogenen Aussagen: lieber nichts riskieren. Komprimierte Information in den Antworten, achtsam gesondert in privat-bedenkenswerte und öffentlichkeitsverträglich-unbedenkliche. Nur die Angst eines alten Menschen, der durch die Hölle gegangen ist? Möglicherweise übertriebene Vorsicht? Vielleicht gar Verfolgungswahn oder einfach seismografische Wirklichkeitserfassung einer Lebenserfahrenen?

Bei Larissa und Aljoscha ist es wie immer entspannt und informativ. Der stets laufende Fernseher trägt das Seine dazu bei, besser gesagt der letzte kremlunabhängige Kanal "TV-6". Um Punkt Mitternacht wird an diesem Jännerabend der Bildschirm finster, der Sender aufgrund eines zweifelhaften Gerichtsbeschlusses vom Bildschirm verbannt. Meine Gastgeber aus der aufkommenden Mittelschicht freut das nicht. Enttäuscht sind sie nicht, denn das hätte Illusion vorausgesetzt, und die machen sie sich schon längst nicht mehr. Entsetzt waren sie zuletzt vor einem Jahr, als man das Flaggschiff der russischen Pressefreiheit, den Kanal NTV, abgedreht hat. Damals gingen sie noch auf die Straße, um mit anderen Verblüfften zu demonstrieren. Am heutigen Abend berichten sie russisch-gefasst bis russisch-gelassen von den Merkmalen einer schleichenden Sowjetisierung. Eben erst hatte man den russischen Umweltschützer, Journalisten und früheren Marineoffizier Grigorij Pasko mit lächerlicher und höchst konstruierter Beweislage wegen angeblicher Spionage zu vier Jahren Arbeitslager verurteilt. Nationale und internationale Proteste blieben wirkungslos. Die Beobachter sind sich einig, dass auch die Schließung der Sender politisch motiviert ist, um die Gleichschaltung des Fernsehens abzurunden.

Anrufe im Moskauer staatlichen Statistikamt sind weniger informativ als vielmehr aufschlussreich. Auch auf die unverfänglichste aller möglichen Fragen, wie viele Zuwanderer Moskau und das umliegende Gebiet jährlich zu verzeichnen hätten, gibt es keine mündliche Auskunft. Fragen seien ausnahmslos schriftlich und zwar mit Fax einzureichen. Die Antwort werde binnen zweier Wochen zugesandt, sagt die Nichtauskunftsperson am anderen Ende der Leitung. Und was soll man dann schreiben, wenn der Artikel in einer Woche fertig sein soll? "Schreiben Sie halt irgendwas!" Aber warum kann sie diese lächerlichen Zahlen nicht mündlich durchgeben? "Deshalb", ist das letzte Wort aus dem staatlichen Statistikamt. Die Wohnungsvermieterin hatte sich immer schon gewundert, wie man in Russland nur den Grund hinter einem Faktum suchen kann.

260 Angestellte beschäftigt Oleg Abramowitsch in seinem florierenden Unternehmen für Bauelemente. Auf der Geburtstagsfeier Bescheidenheit zu demonstrieren hätte lächerlich gewirkt, weshalb man es gar nicht erst versuchte. Üppigkeit in ihren geschmacklosesten Spielformen wählte man für den Abend. "Wenn man meinen Namen hört, horcht man auf", lässt Oleg wissen. Das sei nicht immer so gewesen; früher habe man ihn für blöd gehalten, weil er bescheiden angefangen habe; während die anderen die teuersten Autos fuhren, sei er selbst am Steuer eines Kleinwagens sowjetischer Provenienz gesessen; mittlerweile sei es umgekehrt, eben habe er seiner jungen Frau einen neuen Mercedes geschenkt. Und ohne Pistole gehe er nicht mehr aus dem Haus. In Russland ein amerikanischer Weg vom Tellerwäscher zum Millionär? Nichts dergleichen, flüstert ein Eingeweihter unter vier Augen zu. Beste Verbindungen im politischen Netzwerk aus sowjetischer Zeit hätten den schnellen Erfolgsweg geebnet. Einem Treffen für eine Reportage hatte Oleg schon zuvor zugestimmt. Tage später wird der Termin abgesagt, Olegs Frau lässt über gemeinsame Bekannte ausrichten, man wolle "lieber nicht" in den Medien aufscheinen, da die Netzwerke doch länderübergreifend seien; man wisse ja nie.

Alexander Petrowitsch hält das Lenkrad mit beiden Händen. Die Fahrschule wird ihn das gelehrt haben. Nett und freundlich unterhält er sich über die Dinge des Lebens, korrekt gibt er sich dem interessierten Ausländer gegenüber und korrekt möchte er auch das große Russland sehen. Allem Anschein nach hat er an Putins Geburtstag auf seine Langlebigkeit angestoßen. Dass russische Militärs in Tschetschenien Kriegsverbrechen begehen und Massensäuberungen durchführen, stört und wundert ihn nicht. "Sollten sie etwa still stehen, wenn selbst kleine tschetschenische Kinder auf sie schießen?" Die wenigen Zeitungen, die wie die Novaja Gazeta unerschrocken über staatliche Korruption und über die nationale Katastrophe Tschetschenien berichten, liest Petrowitsch nicht. Zur Zeit unserer Gesprächs drohte der Zeitung Novaja Gazeta der Konkurs, da zwei Gerichtsentscheide sie wegen angeblicher Verleumdung in den Reportagen zu einer Entschädigungszahlung von beispiellosen 1,5 Millionen Dollar zwingen wollten. Der Konkurs konnte abgewendet werden. Für A. Petrowitsch wäre es logischer gewesen, auch dieses Medium zu schließen. "Medien dürfen nicht ständig gegen die Regierung und den Präsidenten aufmucken", sagt der 50-Jährige mit einem netten Grinsen auf seinem faltenfreien Mittdreißigergesicht.

Das russische Telefon ist der Hort grenzenloser Anonymität. Bloß keinen, schon gar nicht den eigenen Namen nennen, man weiß ja nie.
"Hallo?"
"Hallo."
"Hallo!"
"Hallo!?"
"Hallo!"
"Hören Sie mich?"
"Ich höre."
"Ist Sergej zu Hause?"
"Nein."
"Na, gut."
"Wer ist am Telefon?"
"Ich rufe wieder an."
"Soll ich etwas ausrichten?"
"Ich rufe wieder an."
"Vielleicht soll er Sie zurückrufen?"
"Ich rufe wieder an."
"tü, tü, tü, tü"

Ironisch hatte der "taz"-Korrespondent Klaus-Helge Donath ein Jahr nach Putins Vereidigung den wieder erblühenden Personenkult um den russischen Präsidenten beschrieben und die Vermutung geäußert, dass Putin selbst daran Gefallen findet. Als ein Beispiel für einen huldigenden Patrioten nannte Donath einen Studenten aus Tscheljabinsk, der seinem Idol eine Ode widmete. Der Student ging vor Gericht. Um seine, des Präsidenten und ganz Russlands Ehre wieder herzustellen, müsse Herrn Donath die Akkreditierung entzogen, das taz-Korrespondentenbüro in Moskau geschlossen und 11.000 Euro Schadenersatz gezahlt werden. Als plötzlich die regierungsamtliche Zeitung Rossijskaja Gaseta die Frage behandelte und sich die Anwältin von dem deutschen Journalisten zurückzog, äußerte Russlands berühmtester Anwalt, Henri Resnik, der den Fall forthin übernahm: "Es ist offensichtlich, dass gewisse Leute, die möglicherweise der Staatsmacht nahe stehen, die Korrespondenten an die Kette nehmen wollen." Im April 2002 wurde der Prozess abermals vertagt.

Der Fahrer des Privattaxis trägt eine seltene Uniform. "Ich bin von der Steuerpolizei", antwortet er eifrig auf die einfachen Fragen nach Herkunft, Beruf und Einschätzung der Großwetterlage. Das Auto? Ein Dienstauto, er sei auf dem Weg zu potenziellen Steuersündern. Und damit der Weg auch genützt wird, verdient er an der Steuer vorbei ein paar Rubel als Privattaxi dazu. Information à l'offensive - es gilt, das Widersprüchliche als Norm, das Absurde als alltäglich sehen zu lernen.

Ende Oktober 2002: In Moskau verwundert die Verwunderung des Westens darüber, dass der Kreml Art und Umstände der Beendigung des Geiseldramas derart geheimnisvoll verschleiert und zum Anlass nimmt, die Medienfreiheit per Gesetz zu knebeln. (ALBUM/DER STANDARD, Printausgabe vom 9./10.11.2002)