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Und worum geht's?" ist die gängige Frage, die auf eine Buchempfehlung folgt, und zumeist fallen dann drei Bemerkungen zum Inhalt, bis der hilflose Nachsatz kommt: "Also das klingt jetzt alles komisch, aber es ist ein echt gutes Buch." Sogar ausgesprochen komisch klingt es, wenn man den Plot des neuen Romans von A. L. Kennedy zusammenzufassen versucht. Der hört sich nämlich an wie ein Lore-Roman. Doch auch wenn da einiges an den Haaren herbeigezogen wurde - A. L. Kennedy hat es fantastisch frisiert. Alles, was du brauchst, handelt von einer jungen Frau namens Mary Lamb, die hochbegabt ist, aber elternlos aufgewachsen. Sie will Schriftstellerin werden und bewirbt sich daher mit einigen Erzählungen um ein Stipendium auf einer relativ dünn besiedelten Insel. Mit Erfolg. Was sie nicht weiß: In der Jury saß ihr unbekannter Vater, der zufällig ebenfalls Schriftsteller ist, und zwar ein erfolgreicher. Fortan beginnt er, das Pygmalionspiel mit ihr zu spielen, das heißt, er bringt ihr alles Mögliche zu Schreiben und Leben und Literaturbetrieb bei, bis sie zuletzt, gereift, einen guten Erstling geschrieben hat. Mary ahnt lange nicht, dass es sich bei dem gestrengen Lehrmeister um ihren Vater handelt, und er traut sich umgekehrt nicht, es ihr zu sagen. Aber irgendwann bekommt sie alles heraus. Und dann fallen sie sich in die Arme. Das Buch hat 573 Seiten und wirkt damit wie ein Dinosaurierei im Wachtel-Legebetrieb der jüngeren Literatur. Doch es lohnt jede Seite. Alles, was du brauchst ist ein meisterhafter Roman, der einen beim Lesen kribbelig macht, so schön ist er und so schrecklich. Der schottischen Autorin, Jahrgang 1965, die inzwischen internationale Berühmtheit erlangt hat, gelang damit der sprichwörtliche große Wurf. Deswegen ist es letztlich auch egal, wie irrwitzig die Handlung verschwurbelt ist, der Leser trifft, wie schon in ihren Romanen - und vor allem in dem bravourösen Erzählband Ein makelloser Mann - wieder auf einen Kosmos skurriler, liebenswerter Figuren, deren originelle Denkweise einen unglaublichen Charme hat. So klingt es etwa, wenn Mary über ihre Zukunft als Autorin nachdenkt: "Und überall um sie herum würden Gehirne jeder Art und Neigung damit fortfahren, Fantasien, Zukunftsvisionen, Hoffnungen auszumalen. In Gedanken, die so frei wie Kinder, so glänzend wie Messer waren, würde man Taten ausprobieren und dann unwiderruflich entstehen lassen." Die Hauptfiguren sind auf rührende Weise umständlich, und in ihrem Willen, alles gut zu machen, denken sie über drei bis vier Ecken und verwickeln sich in Peinlichkeiten. Das gilt vor allem für Nathan. Als er feststellt, dass seine Tochter dabei ist, sich in ihn zu verlieben, fällt ihm beispielsweise nichts Besseres ein, als die nächstbeste Frau abzuschleppen, damit er in der Zeit, in der seine Tochter vermutlich bei ihm vorbeischauen würde, in deutlicher Stellung anzutreffen sei. Doch so, wie Kennedy seine psychische Disposition entwickelt, wirkt nichts wahrscheinlicher, als dass Nathan genau diese Lösung für plausibel hält. Schon in ihrem ersten Roman Aufforderung zum Tanz, der ebenfalls von einer Vater-Tochter-Beziehung handelte, gab A. L. Kennedy einen präzisen Einblick in beide Seiten der Beziehung. Diesmal geht sie noch einen Schritt weiter, indem sie nämlich sowohl Nathans als auch Mary Lambs Köpfe aufklappt. Kursiv gesetzt, dominieren ihre Gedanken den Roman. Was die emotionale Stabilität angeht, wirkt Mary mit ihrem Hauch Frische und Naivität stärker als ihr Vater, den die Frau verlassen hat, weil sie sich von ihm als Material für seine Bücher benutzt fühlte. Trotzdem läuft er ihr hinterher, traurig darüber, dass er im Leben genau in jenen Klischees landet, denen er beim Schreiben zu entkommen sucht. Und doch nichts dagegen tun kann. Auch die Freundschaft zu seinem Lektor Jack vermag es nicht mehr, ihn zu stützen, denn Jack ist Trinker. Die bestürzendste Szene des Buchs ist vermutlich jenes Telefongespräch, in dem Jack seinen Alkoholismus schildert und welche medizinischen Tricks für eine Aufnahme direkt über eine Darminfusion - gekoppelt mit einer homosexuellen Dienstleistung - er anwenden muss, um überhaupt noch etwas zu spüren. Nicht nur Nathan wird schlecht bei dieser Schilderung. Obszön oder pervers sind jedoch weniger die sexuellen Praktiken der Figuren als ihre Art, über Geschlechtsverkehr nachzudenken. Körper und Geist, Schreiben und Leben: In diese verworrenen Fäden sind die Figuren verwickelt. Und der Schluss? Glücklich, kitschig gar? Aber ja. Das haben Mary und Nathan auch verdient. (Von Silke Scheuermann/DER STANDARD; Printausgabe, 9.11.2002)