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Foto: EPA/CTK/Michal Kamaryt
Auf dem Prager Nato-Gipfel nimmt der tschechische Präsident Václav Havel, dessen Amtszeit Ende Jänner ausläuft, Abschied von der weltpolitischen Bühne. Im Gespräch mit Vertretern renommierter Zeitungen zog der einstige Dissident eine erste Bilanz. Für den Standard war Josef Kirchengast dabei. Worin liegt eigentlich die historische Bedeutung des Prager Gipfels? Wenn sich die Nato erweitert, schwindet damit nicht zugleich ihre Bedeutung? Havel: Erstmals findet ein Nato-Gipfel jenseits des früheren Eisernen Vorhangs statt und noch dazu in der Stadt, wo der Warschauer Pakt aufgelöst wurde. Die eigentliche Bedeutung des Gipfels ist Folge einer Kombination mehrerer historischer Entwicklungen. 13 Jahre nach dem Fall des Kommunismus sieht sich die Welt völlig anderen Formen der Bedrohung gegenüber. Der zweite Grund ist die bisher größte Erweiterung der Allianz. Das bedeutet, dass die Teilung Europas in Einflusssphären ein für alle Mal vorbei ist und dass die neue Ordnung auf der Gleichheit aller beruht. Und der dritte Grund ist, dass die Zeit reif ist für die Nato, ihr Verhältnis zu anderen Teilen der Welt, anderen Staaten und anderen Organisationen neu zu definieren. Wenn von neuen Bedrohungen die Rede ist: Darf Russlands für seine Beteiligung an der Antiterrorkoalition freie Hand in Tschetschenien erhalten? Havel: Nein, das glaube ich nicht. Wie soll sich der Westen hier gegenüber Moskau verhalten? Havel: Freundschaft darf nicht auf Lügen, sondern muss auf Offenheit basieren. Wir können nur mit jenen Freunde sein, mit denen wir Aug in Auge darüber sprechen können, was wir aneinander auszusetzen haben. Die Frage, wer drinnen und wer draußen bleiben soll, betrifft nicht nur die Nato und Russland, sondern auch die EU und die Türkei. Sollen diese beiden großen Zivilisationen Teil der europäischen Strukturen sein oder nicht? Havel: Die Nato ist unter anderem eine regionale Organisation, die nicht endlos in alle Richtungen expandieren kann. Ohne Kenntnis ihrer eigenen Identität könnte sie keine sauberen Beziehungen zu den anderen Einheiten entwickeln. Die Nato-Erweiterung hat also Grenzen. Darüber sollte man offen und emotionslos diskutieren. Gleiches gilt für das Thema EU und Türkei. Neben dem geopolitischen Aspekt geht es um Werte. Die Türkei wird nicht weggestoßen, weil sie ein muslimisches Land ist. Die EU hat eher Bedenken wegen gewisser Haltungen zu den Menschenrechten und der türkischen Zypernpolitik. Was die bevorstehende EU-Erweiterung betrifft: Was können die mittel- und osteuropäischen Kandidatenländer in die Union einbringen? Wie sieht Ihre eigene Vision für das neue Europa aus? Havel: In der gesamten europäischen Geschichte hatte jeder Spieler stets seine Rolle im großen Orchester, und es war nie gut, wenn einige ihren Part nicht spielen durften. Was die Neuen, sei es in die Nato, sei es in die EU einbringen werden, ist eine besondere historische Erfahrung, welche die westlichen Demokratien nicht haben. Und es wird aufklärend wirken, wenn diese Erfahrungen klar artikuliert werden. Ein brisantes Thema der EU-Erweiterung sind, vor allem aus österreichischer Sicht, die Benes-Dekrete. Wie könnte Ihrer Meinung nach eine Lösung dieses Problems aussehen, nicht im juristischen, sondern in einem politisch-moralischen Sinn? Havel: Vielleicht sollte ich nur sagen, was meiner Meinung nach die Tschechische Republik zur Verbesserung des Verhältnisses tun sollte. Natürlich können wir die Geschichte und einige ihrer Folgen nicht ändern, das wäre schon rein technisch nicht möglich. Was wir aber tun können, ist, über unsere Geschichte offen und objektiv nachzudenken. Das beginnt jetzt hier, obwohl es vielleicht von der offiziellen Politik noch nicht ausreichend vorangetrieben wird. Aber es sind schon unzählige Bücher erschienen, auch über die nicht so ruhmreichen Kapitel unserer Geschichte. Befürworten Sie eine gemeinsame tschechisch-österreichische Erklärung, ähnlich jener zwischen der Tschechischen Republik und Deutschland, und könnten Sie sich eine solche noch vor dem EU-Beitritt Tschechiens vorstellen? Havel: Das ist nicht auszuschließen und könnte sogar eine gute Sache sein. Aber es darf niemals unter irgendeinem Druck geschehen. Eine Erklärung, die nur deshalb verabschiedet wird, weil sie eine Bedingung für den EU-Beitritt unseres Landes ist, hätte nicht viel Sinn. Sinnvoll wäre sie nur, wenn sie um ihrer selbst willen, um der Wahrheit willen, erfolgte. In einem Vortrag an der New York City University vor zwei Monaten sagten Sie: "Ich scheine mir selbst gegenüber mehr und mehr im Zweifel." Und weiter: "Wir können nicht erwarten, dass sich die Welt - in der Hand von Dichtern - sofort in ein Gedicht verwandelt." Als Dissident und Schriftsteller schrieben Sie den berühmten Essay "Versuch, in der Wahrheit zu leben". Kann man als Politiker in der Wahrheit leben? Havel: Ein Politiker sollte sich, wie jeder andere Bürger, an die Wahrheit halten und auch in Wahrhaftigkeit gegenüber sich selbst leben. Aber es stimmt, dass man in einem hohen politischen Amt manchmal eine mehr diplomatische Sprache verwenden muss. Und ich freue mich auf die Zeit, wenn ich das nicht mehr tun muss. Heißt das, dass Sie sich sofort nach dem Ausscheiden aus dem Amt nicht mehr diplomatisch ausdrücken werden? Havel: Es ist sicher nicht meine Absicht, sozusagen die Unterwäsche der Geschichte auszubreiten, wie das gewisse Butler von gewissen Prinzessinnen getan haben. Aber ich schulde es der Öffentlichkeit, glaube ich, über meine Erfahrungen nachzudenken. Wenn ich die Inspiration habe und in der Stimmung bin, werde ich darüber schreiben. In Form von Memoiren oder als Theaterstück? Havel: Vielleicht schreibe ich ein Stück, in das einige Erfahrungen meiner Präsidentschaft auf irgendeine Weise projiziert werden. (DER STANDARD, Printausgabe, 20.11.2002)