Straßburg - Das von der EU-Kommission gegen Deutschland betriebene Defizitverfahren sieht bis zu neun Stufen vor, an deren Ende im Extremfall eine hohe Geldstrafe stehen kann. Das bisher einzige Mal seit Einführung des Euro hatte die Kommission dieses Verfahren gegen Portugal wegen eines Staatsdefizits oberhalb der Grenze von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) im Sommer eingeleitet. Die Kommission erwartet das deutsche Defizit in diesem Jahr bei 3,8 Prozent des BIP und schließt ein erneutes Überschreiten der Defizitgrenze im kommenden Jahr nicht aus. Das Verfahren wird im EG-Vertrag im Artikel 104 geregelt. Demnach werden die Haushaltslage und die Höhe des öffentlichen Schuldenstandes der Mitgliedsländer von der Kommission zur Feststellung schwer wiegender Fehler überwacht. In dem Artikel sind folgende Schritte vorgesehen:
  • 1. Schritt (Artikel 104.3): Die Kommission erstellt einen Bericht, wenn das Haushaltsdefizit eines Mitgliedstaates über drei Prozent liegt und die Überschreitung dieser Grenze nicht vorübergehend ist sowie nicht mit außerordentlichen Faktoren zusammenhängt. Diesen Bericht legte EU-Währungskommissar Pedro Solbes im Falle Deutschlands am Dienstag vor. Im Bericht wird berücksichtigt, "ob das öffentliche Defizit die öffentlichen Ausgaben für Investitionen übertrifft; berücksichtigt werden ferner alle sonstigen einschlägigen Faktoren, einschließlich der mittelfristigen Wirtschafts- und Haushaltslage des Mitgliedstaates".
  • 2. Schritt (Artikel 104.4): Der Wirtschafts- und Finanzausschuss gibt innerhalb von zwei Wochen nach Erhalt des Berichts der Kommission eine Stellungnahme dazu ab.
  • 3. Schritt (Artikel 104.5): Ist die Kommission der Auffassung, dass in einem Land ein übermäßiges Haushaltsdefizit besteht oder sich ergeben könnte, legt sie dem EU-Ministerrat eine Stellungnahme vor.
  • 4. Schritt (Artikel 104.6): Die Finanzminister entscheiden mit qualifizierter Mehrheit auf Empfehlung der Kommission, ob ein übermäßiges Defizit vorliegt. Die Entscheidung muss innerhalb von drei Monaten zum nächsten Berichtstermin getroffen werden. Alle EU-Staaten stimmen ab, nicht nur die Länder der Euro-Zone.
  • 5. Schritt (Artikel 104.7): Wird ein übermäßiges Defizit festgestellt, richtet der EU-Ministerrat an den betreffenden Mitgliedstaat Empfehlungen mit dem Ziel, die Lage innerhalb einer bestimmten Frist zu ändern. Die Empfehlungen werden nicht veröffentlicht. Diese Schritte sind im Verfahren gegen Portugal vollzogen.
  • 6. Schritt (Artikel 104.8): Falls ein Mitgliedstaat die Empfehlungen des Rates nicht innerhalb der Frist umsetzt, kann der Rat seine Empfehlungen veröffentlichen.
  • 7. Schritt (Artikel 104.9): Folgt der Mitgliedstaat den Empfehlungen weiter nicht, beschließt der EU-Ministerrat eine Verpflichtung für den Mitgliedstaat, innerhalb einer Frist Maßnahmen für den zur Sanierung nötigen Defizitabbau zu treffen. Der Rat kann regelmäßige Berichte verlangen, um die Bemühungen zu überprüfen.
  • 8. Schritt (Artikel 104.11): Erst wenn der Mitgliedstaat auch diesem Beschluss nicht folgt, greift das Instrumentarium der Sanktionen. Der Rat kann dabei eine oder mehrere der folgenden Maßnahmen beschließen:
    • Von dem Mitgliedstaat wird verlangt, vor der Emission von Schuldverschreibungen und sonstigen Wertpapieren vom Rat näher zu bezeichnende zusätzliche Angaben zu veröffentlichen.
    • Die Europäische Investitionsbank wird ersucht, ihre Darlehenspolitik gegenüber dem Mitgliedstaat zu überprüfen.
    • Von dem Mitgliedstaat wird verlangt, eine unverzinsliche Einlage bei der Gemeinschaft zu hinterlegen, bis das übermäßige Defizit korrigiert worden ist. Der Sockelbetrag der ersten Einlage beträgt 0,2 Prozent des BIP. Diesen kann der Finanzministerrat in den Folgejahren in Abhängigkeit von der Höhe des Defizits weiter anheben, wenn der Staat nicht ausreichend gegen sein Defizit vorgeht. Die gesamte Einlage darf 0,5 Prozent des BIP nicht übersteigen.

  • 9. Schritt (Verordnung 1467/97.13): Zwei Jahre nach dem Sanktionsbeschluss wandelt sich die Einlage in eine Geldstrafe, wenn der Mitgliedstaat dem Ratsbeschluss noch immer nicht gefolgt ist. Die Geldbußen fallen dem EU-Haushalt zu und werden unter den übrigen Mitgliedstaaten aufgeteilt. (APA/Reuters)