Betont moderat gibt sich der Vorsitzende der islamistischen Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP), die seit Anfang des Monats in Ankara regiert, auf seiner Reise durch Europa. Gebetsmühlenartig wiederholte er bei seinen Besuchen in Athen, Rom, Berlin, Madrid, London sowie in der EU- Hauptstadt Brüssel und dem Straßburger Parlament, dass Europa für ihn kein "christlicher Klub" sei und die Türkei keinen "Kampf der Kulturen" wolle. Gleichzeitig betonte er immer wieder, seine Regierung werde in Sachen Demokratie und Menschenrechten den EU-Forderungen nachkommen. Ministerpräsident Abdullah Gül setzte noch eins drauf, indem er ankündigte, man werde die Europäer in nächster Zeit mit mutigen Reformschritten "schocken". Ankara will so erzwingen, dass die EU ein konkretes Datum für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen nennt. Wobei die neue türkische Regierung ihr Anliegen geschickt vorträgt und die EU in eine Defensivposition geraten ist. Hier stechen das Argument vom "Christenklub" Europa und die Frage nach seinen Grenzen hervor.
Dazu gibt es bei weitem keine einheitliche Meinungen innerhalb der EU. Klar ist nur, dass die europäische Kultur "christlich geprägt" ist. Noch schwieriger sind die Grenzen Europas auszumachen. Wer hätte im 19. Jahrhundert von "Europa" sprechen können, ohne die Kolonien, das überseeische Europa, mitzudenken? Man sollte also geografische Grenzen besser nicht zum Kriterium machen. Womit deutlich wird, dass letztendlich nur die Einhaltung der von der EU in Kopenhagen formulierten Kriterien für die Beitrittskandidaten sowie wirtschaftliche Überlegungen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei ausschlaggebend sein können. So betrachtet, ist Ankara noch sehr weit von Europa entfernt. (DER STANDARD, Printausgabe, 22.11.2002)