Den Engländern kann man sicher vieles vorwerfen, mangelnder Sinn für Tradition gehört wohl nicht dazu. Immerhin hält das Inselvolk störrisch an so teuren wie sinnlosen Institutionen wie der Monarchie fest - da können die Butler des königlichen Haushalts ungustiöse Details aus dem Palastalltag ausplaudern wie sie wollen. Auch Linksverkehr und Minzsauce sind nicht in Gefahr, in naher Zukunft auf dem Müllhaufen der Geschichte zu landen.
Es überrascht daher, wie unsensibel in einem Land, das die moderne Sportgeschichte als stolze Heimat so beliebter Spiele wie Rugby, Golf oder gar Fußball maßgeblich geprägt hat, mit deren steingewordenem Erbe umgegangen wird. Oft findet man dort, wo früher Spielfelder und Tribünen standen, nur noch Parkplätze oder Einkaufszentren. Nichts erinnert mehr an Orte, die für tausende Menschen an Wochenenden zum Mittelpunkt ihres Lebens wurden - aufgeladen mit kollektiver Freude oder gemeinsam ertragenem Leid.
Die gute Stube des englischen Fußballs - der atemberaubend schöne Trinity Road Stand im Villa Park von Birmingham wurde vor zwei Jahren geschleift. (Weitere Fotos gibt's hier.) |
Die Publikation des Taylor-Reports 1990 etwa, bedeutete für viele alte Fußball-Stadien das Aus. Nachdem ein Jahr zuvor 96 Liverpool Fans in der Hillsborough-Katastrophe auf den Stehplatztribünen von Sheffield ums Leben gekommen waren, sollte der Bau reiner Sitzplatzarenen die unhaltbar gewordenen Sicherheitsmängel beheben helfen. Diese Vorgabe, und die immer weiter fortschreitende Durchkapitalisierung ihres Sports, bescherten den Ästheten unter den Fans jedoch allzu häufig austauschbare Baukörper - seelenlose Gevierte, benannt nach geldgebenden internationalen Konzernen. (Von überkandidelten Eventpalästen mit Schiebedächern erst gar nicht zu reden!)
Jedoch...
Zweifellos muss man sich jedoch an diesem Punkt vorsehen, um nicht aus blinder Romantik dem immer schon falschen Traum von der guten alten Zeit zu verfallen - denn natürlich sind, beispielsweise durch die Überwindung der alten Stützkonstruktionen durch moderne Bauweisen und Materialien, nicht nur Kapazitäten sondern auch Qualitäten gesteigert worden. Und man darf auch nicht übersehen, dass die nun als erhaltenswert angesehen, ehrwürdigen Stadien oft ebenso anstelle noch älterer Vorgänger entstanden. Dieser nüchterne Blick wird etwa exemplifiziert durch ein Plädoyer von John Burns, der klipp und klar fordert, Everton solle endlich seinen unzulänglichen Goodison Park verlassen und die Errichtung eines neuen Superstadions auf der grünen Wiese anstreben.
Es ist allderdings schwer vorstellbar, dass die Besucher zu solchen Arenen jemals eine derart intime Beziehung werden aufbauen können, wie sie in den Namen der alten Stände zum Ausdruck kommt - so muss etwa der "Cowshed" im nicht mehr existenten alten Stadion von Huddersfield Town ein sehr heimeliger Ort gewesen sein.
Wie das Kolosseum
Zweifelsohne aber ist viel erhaltenswerte Bausubstanz verloren gegangen. Das soll sich nun jedoch ändern. "English Heritage", eine Agentur die das britische Ministerium für Kultur, Medien und Sport bei der Identifikation von schützenswerten Gebäuden mit besonderem architektonischen oder historischen Interesse berät, hat vor einigen Monaten eine neue Initiative unter dem Motto "A sporting chance - extra time for England's historic sports venues" initiiert. Im Rahmen eines Pilotprojektes im Großraum Manchester, wird derzeit eine Systematik erarbeitet, mit deren Hilfe in der Folge auf nationaler Ebene eine Bestandsaufnahme erhaltenswerter Objekte erfolgen soll.
Simon Inglis, ein Mitarbeiter dieser Studie, schreibt im "Observer" über die kulturhistorische Relevanz der alten Ränge: "No less than cinemas, pubs or music halls, the terraces formed a potent focus of working-class culture for millions of individuals. For that reason alone - certainly not for nostalgia - I would argue that future generations, be it in a hundred or even a thousand years, should, like visitors to the ruins of the Colosseum, be able to gain some understanding of how we, in 20th-century Britain, chose to watch our national game."
Ibrox in Glasgow. Hier konnten trotz Modernisierung die alten Ziegelfassaden von Archibald Leitch erhalten werden. |
Obwohl vielleicht schon bald die erste Stehplatztribüne unter Schutz stehen wird - für viele Kleinode kommt die Initiative zu spät. Arsenals Highbury wird in wenigen Jahren verschwunden sein; Craven Cottage, letzter freistehender Pavillion in einem englischen Stadion, wird dem Neubau für den FC Fulham zum Opfer fallen. Damit, und mit der bereits erfolgten Umgestaltung in Southampton, Blackburn oder Birmingham, wird auch die Hinterlassenschaft des umtriebigen schottischen Architekten Archibald Leitch Stück für Stück verschwinden. Die charakteristischen Konstruktionen des Mannes aus Glasgow aus dem frühen 20. Jahrhundert konnte man bis in die jüngste Vergangenheit in fast jeder größeren britischen Stadt finden.
Auch "The Drill Field" in Northwich, seit 1875 ununterbrochen bespielt und damit der längstdienende Fußballplatz der Welt, existiert nicht mehr. ( Hier ein Erlebnisbericht vom Besuch des letzten Matches im Frühjahr 2002.) Er musste Wohnhäusern weichen. (Michael Robausch)