Verlag
Die Stunde der Apokalyptiker schlug bekanntlich vor beinahe drei Jahren, beim Millenniumswechsel: Wo die einen reale Szenarien der Bedrohung ausmachten - etwa durch den Y2K-Bug -, generierte die Unterhaltungsindustrie eine Fülle an Erzählungen über unbegründete Ängste. Der US-Romancier Steve Erickson war jedoch vom Verdacht des kommerziellen Kalküls befreit, als er zu dieser Zeit seine Endzeitparabel The sea came in at midnight (dt.: Das Meer kam um Mitternacht) herausbrachte - waren doch schon seine bisherigen Romane meist dystopische Entwürfe. Die Ironie von Ericksons Beitrag zur Jahrtausendwende liegt nun in dem Umstand, dass sich chronologische Zeitkonzepte darin als völlig unerheblich erweisen: Der Bewohner, eine namenlose Figur des Romans, erstellt beispielsweise seit Jahren einen Kalender, der sich auf besonders schwer verständliche Ereignisse der Weltgeschichte stützt. Ob der Völkermord in Kambodscha, die Entscheidung von Coca-Cola, seinen größten Konkurrenten zu plagiieren, oder auch die Wahl Kurt Waldheims zum österreichischen Präsidenten - der Bewohner versucht, ausgehend von einem Datum, mit dem sein eigenes Leben einen willkürlichen Verlauf nahm, den hinter absurden Geschehnissen verborgenen Sinn auszumachen. Das Mädchen Kristin wird zu Beginn des Buches selbst zur Zeugin eines solchen Ereignisses: Als Einzige gelingt es ihr, dem kollektiven Selbstmord von 2000 Sektenmitgliedern zur Jahrtausendwende zu entgehen. Seitdem sorgt sie unwissentlich, wohin es sie auch verschlägt, für Veränderungen - wie ein Störsignal dringt sie in die Leben von anderen ein und trägt dazu bei, dass sich die Verhältnissen umkehren. Etwa auch beim namenlosen Bewohner, dem sie sich in seinem Haus in den Hollywood Hills eine Zeit lang nackt und willenlos überantwortet. Die beiden sind nicht die einzigen Figuren in dem elliptisch angelegten Roman. Erickson bedient sich ähnlicher narrativer Strategien wie Paul Auster, wenn er zufällige Berührungspunkte sucht, von einer Biografie in die nächste wechselt und sich so allmählich familiäre oder auch soziokulturelle Verbindungen ergeben. Das Setting - Paris um '68, das East Village New Yorks in den 70ern, L. A. um die 90er, Tokio im neuen Jahrtausend - funktioniert als populärkulturelles Pastiche für die Lebenswege der Personen, wobei der historische Hintergrund erkennbar bleibt, aber wie in der Sci-Fi-Literatur durch einzelne Elemente verfremdet wird. Ericksons Prosa ist klar und schnörkellos, bisweilen berichtend. Auf diese Weise gelingt es ihm, selbst unglaubwürdige Wendungen mit einem Maß an Notwendigkeit zu versehen. Das Überthema des Buches ist denn auch die (unerquickliche) Suche nach einer größeren Ordnung im Chaos - eine Suche, an der sich nicht nur seine Figuren aufreiben. Im Orten einer allgemeinen Verunsicherung durchaus er- findungsreich, scheitert Erickson letztlich selbst daran, aus dieser aufschlussreiche Schlüsse zu ziehen. (Von Dominik Kamalzadeh/DER STANDARD; Printausgabe, Sa./So., 30.11.2002)