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Diesjähriger Literatur-Nobelpreisträger Imre Kertesz im Burgtheater in Wien.

apa/artinger
Als Matinee-Gast des Wiener Burgtheaters, fast schon auf dem Wege nach Stockholm, entwarf der ungarische Literaturnobelpreisträger Imre Kertész ein berührendes Bild seiner Dichtung: als Brennspiegel für die Erfahrung des Totalitarismus. Wien - Es ist die denkbar unmöglichste Annäherung an die Unteilbarkeit von Erfahrung. Imre Kertész sitzt mit der Freundlichkeit einer Hauptperson, die von der ihr zuteil gewordenen Ehre, dem Nobelpreis für Literatur, kein besonderes Aufhebens gemacht sehen will, in einem Lederfauteuil auf der Bühne des Burgtheaters: umrahmt vom Hausherrn wie vom Literaturchef der Alten Schmiede - Klaus Bachler, als Burgtheater-Direktor so etwas wie der Sachbeauftragte für Repräsentation und Darstellungsfragen, und Kurt Neumann, ein ganz nach innen gekehrter Sachwalter der Literatur als spröder, immerzu gefährdeter Verständigungsform. Kertész, ein freundlicher, unendlich ruhiger Herr von 73 Jahren, das schlohfarbene Haar nach hinten gekämmt, die Hand im Takt seiner Ausführungen schlagend, erzählt von seinen neuen, ihn so erfreuenden wie gewiss auch überfordernden Lebensumständen bereitwillig komisch: Er, Kertész, wisse nicht, welche Rolle er da spiele; er müsse jetzt unentwegt "Wichtiges" sagen, wenn er gerade nicht eines seiner Bücher, wie den Roman eines Schicksallosen , zu signieren habe. Und es seien die Fotografen, die mit ihren Objektiven auf ihn hinwiesen - da, so sieht er aus, eben vom Scheitel bis zur Sohle ein Literaturnobelpreisträger, womöglich zwischen Stößen unsignierter Bücher hoffnungslos eingeklemmt. Kernerfahrungen Kertész, der vollendet formsichere, dabei niemals auftrumpfende Weltliteratur über die furchtbarste Erfahrung des 20. Jahrhunderts - und weit darüber hinaus - schreibt, ähnelt weder in äußerer Hinsicht noch vor dem Hintergrund des Holocaust dem Dichter Franz Kafka. Doch nicht nur in den stupenden Querverweisen Kurt Neumanns, dessen vorsichtig lotende Fragen eine ganze Landschaft aufzureißen vermögen, wuchs Kafka mehr als einmal Präsenz zu: Dem Arbeiter-Versicherungs-Beamten seien, wie er dem Tagebuch anvertraute, die eigenen Romanhelden, die "K.'s", eigentlich "widerlich" geworden. Schwer denkbar, dass Kertész seine bezwingende Kinderfigur aus dem Roman eines Schicksallosen "widerlich" oder auch nur beschwerlich geworden sein könnte. Aber er legte gestern im Rahmen der Burg-Matinee verblüffend offen klar, dass die Erarbeitung einer autobiografischen Form, wie in besagtem Buch geleistet, eben nicht zwangsläufig mit dem Autor zur Deckung gelangt. Im Gegenteil: Die Arbeit an der Fiktion "zerstört die Erinnerung an Auschwitz". Wieder anders gesagt: Neumanns und Bachlers Kreisen um Fragen der Ethik wie der Lebensführung in unleidlichen, totalitären Zeiten streifte den Kern jener Erfahrung, die man nicht zu teilen, aber vielleicht lesend nachzuvollziehen vermag: Entfremdung von den gewöhnlichsten Begriffen, an die man sich klammert, erzeugt Fremdheit gegenüber dem eigenen Ich. In diesem Sinne ist das bestürzende "Glücks"-Gefühl, das ein Jugendlicher angesichts von Selektion und Entwürdigung im KZ empfindet, wo ihm Ordnung vorgegaukelt und doch nur der Horizont der Auslöschung vor Augen gestellt wird, das beunruhigende Zeichen schlechthin. Der Totalitarismus, der einen Buben "infantil" (Kertész) macht, verunklart jede Autonomie der Wahlmöglichkeit. Der Mensch verliert schlechthin alles, wodurch er sich als Souverän seines ethischen Handelns erfahren könnte.
Weltzuschreibungen
Und so ehrt es den großen Autor Imre Kertész, dass er, obzwar nie berufsweise oder altersmilde, vor apodiktischen Urteilen zurückscheut. Er bekennt, dass seine "Wurzellosigkeit" für ihn "sehr wichtig" sei. Er sei, auf dem Registerpapier der Nazis, schon einmal ausgelöscht worden. Dessen Namen schon einmal ausgestrichen war - seine Literatur, der bald ein Roman zuwachsen soll, wird bleiben. Auch wenn er sich von Burg-Herr Bachler durchaus nicht zum Abfassen eines Theaterstücks bewegen lassen wollte. Und die Zuneigung, die dem Bescheidenen im Burgtheater, nach Lesung eines Prosaausschnitts durch Johanna Wokalek, fühlbar herzlich entgegen schlug. (DER STANDARD, Printausgabe, 2.12.2002)