München - Der in Wien geborene US-amerikanische
Politikwissenschafter Raul Hilberg ist am Montag in München mit dem
Geschwister-Scholl-Preis geehrt worden. Der Nestor der
Holocaust-Forschung bekam die mit 10.000 Euro verbundene Auszeichnung
für sein Buch "Die Quellen des Holocaust". Das Buch gehöre zu einem
enormen Lebenswerk, das der Erforschung des europäischen Judenmords
galt und die Grundlagen für alle spätere Befassung mit diesem Thema
legte, urteilte die Jury.
Der 1926 in Wien geborene und 1939 in die USA emigrierte Autor und
Wissenschaftler kam 1945 als amerikanischer Soldat nach Deutschland
und entdeckte in München Teile der in Kisten verpackten
Privatbibliothek Hitlers. Dieser Fund steht den Angaben zufolge am
Anfang seiner lebenslangen Studien zum Holocaust. Mit seinem
Interesse am Holocaust war Hilberg laut Hans Mommsen damals ein völliger
akademischer Außenseiter. Selbst sein Doktorvater Franz Neumann
räumte ihm mit einer Dissertation zu diesem Gegenstand schwerlich
Chancen für eine akademische Karriere ein.
"Prädestiniert" für den Preis
Dank seines Lebenswerks sei Hilberg geradezu prädestiniert, diesen
Preis zu erhalten, sagte Rosemarie von dem Knesebeck, Vorsitzende des
Verbandes Bayerischer Verlage und Buchhandlungen. Hilberg sei, wenn
man so wolle, gewissermaßen einer der geistigen Väter des Preises,
auch wenn ihm dies wahrscheinlich gar nicht so bewusst sei. Die Idee,
jedes Jahr ein Buch zu prämieren, das Mut beweise und geistige
Unabhängigkeit zeige, sei im Kern heute genauso lebendig und aktuell
wie vor 22 Jahren.
Die Preisverleihung stellt nach den Worten von Hans Mommsen
zugleich eine späte öffentliche Anerkennung der Verdienste dar, die
sich Hilberg in jahrzehntelanger entsagungsvoller Arbeit für die
Erforschung des Holocaust erworben habe. Mit Recht gelte seine
umfassende Darstellung der "Vernichtung der europäischen Juden"
(Fischer Taschenbuch Verlag), zusammen mit seiner 1990 in Deutschland
erschienenen Studie über "Täter, Opfer und Zuschauer", nach wie vor
als unentbehrliches Standardwerk, sagte der Historiker in seiner
Laudatio.
Erinnerung
Hilberg würdigte in seiner Dankesrede vor allem die Bedeutung des
Widerstandes. "Zwei blasse Leichen junger Leute, die hier ihr Leben
ließen, kamen mir nicht aus dem Sinn. Mit ihnen ist der
Geschwister-Scholl-Preis verbunden, und das ist das Thema, das jedes
verdrängt", sagte Hilberg. "Diejenigen, die sich aus Prinzip gegen
das Nazi- Regime auflehnten, sind jetzt unsere ganz besonderen
Wegweiser. Sie zeigen uns, was wir am höchsten werten sollen und wie
wir uns im äußersten Notfall zu verhalten haben", betonte der
Preisträger. Für Sophie und Hans Scholl sei der Widerstand nicht ein
Mittel zum Zweck gewesen, sondern der Zweck als solcher.
Mit dem vom Verband Bayerischer Verlage und Buchhandlungen und der
Stadt München gestifteten Preis sollen Werke ausgezeichnet werden,
die von geistiger Unabhängigkeit zeugen und geeignet sind, dem
Gegenwartsbewusstsein wichtige Impulse zu geben. Im vorigen Jahr
erhielt der amerikanischen Autor und Psychotherapeut Arno Gruen die
renommierte Auszeichnung, mit der zuvor unter anderem Christa Wolf,
Reiner Kunze und Rolf Hochhuth geehrt worden sind. (APA/dpa)