Sie ist 57 Jahre alt und die erste Großmutter im Bundesrat, der Schweizer Regierung - doch wie eine Großmutter sieht sie nicht aus, die zierliche, elegante Frau, die am Mittwochvormittag vor dem Parlament in Bern im modischen roten Hosenanzug ihren Amtseid ablegt. Auch mit ihren frechen blonden Strähnen im Pagenschnitt wirkt Micheline Calmy-Rey überhaupt nicht großmütterlich - und auch nicht so mütterlich wie ihre Vorgängerin Ruth Dreifuss, die mit 62 nach zehn Jahren im Amt zurücktritt.
Doch wie Dreifuss ist auch Calmy-Rey eine profilierte, charismatische Linkspolitikerin aus Genf und bürgt somit für eine gewisse Kontinuität in der Schweizer Regierung. "Meine Wahl ehrt Genf, Wiege des Roten Kreuzes und Sitz der Vereinten Nationen in Europa", sagte Calmy-Rey in ihrer Antrittsrede. "Das weltoffene Genf will seine Bindungen zur Eidgenossenschaft verstärken." In der Tat fühlt sich der "Arc lémanique", die französischsprachige Genfer-See-Region, von Bern oft ein wenig links liegen gelassen. Dass die Wahl auf Calmy-Rey fiel und nicht auf ihre parteiinterne Rivalin Ruth Lüthi aus dem Kanton Freiburg, hat darum in der "Suisse romande" für große Freude gesorgt.
Als Finanzministerin im Kanton Genf gelang Calmy-Rey die Sanierung der Staatskasse ohne größeren Abbau der öffentlichen Leistungen und ohne Steuererhöhungen - etwa indem sie zusätzliche Beamte als Steuereintreiber einstellte und auf Straßenbahnplakaten die Bürger zum rechtzeitigen Bezahlen der Steuern aufforderte. Auch ihre Kritiker aus dem bürgerlichen Lager bescheinigen ihr Fachkompetenz, Hartnäckigkeit und politisches Gespür: alles Eigenschaften, die ihr auch im bürgerlich dominierten Bundesrat zustatten kommen dürften.
Micheline Calmy-Rey stammt aus dem Bergkanton Wallis, doch zog sie schon mit 18 nach Genf, um dort Politologie zu studieren. Mit ihrem Ehemann betrieb sie dann während 20 Jahren einen Vertrieb für wissenschaftliche Literatur. Das Innenministerium, dem neben den Sozialversicherungen auch Wissenschaft und Forschung unterstellt sind, bezeichnete sie denn auch als ihr bevorzugtes Ressort; doch auch die bürgerlichen Parteien würden dieses Schlüsselressort gerne wieder übernehmen.
Das Finanzministerium dürfte für die Finanzpolitikerin Calmy-Rey vorerst verschlossen bleiben, da der freisinnige Finanzminister Kaspar Villiger noch ein Jahr im Amt bleibt. Als Amtsjüngste müsste Calmy-Rey dann nach Schweizer Brauch mit dem Departement vorlieb nehmen, das am Schluss übrig bleibt. Klar ist nur eines: Ob als Innen- oder Finanzministerin oder in einem anderen Ressort - Großmutter Micheline wird in Zukunft wenig Zeit für ihre drei Enkelkinder haben. (Klaus Bonanomi/DER STANDARD, Printausgabe, 5.12.2002)