Vielleicht hat die wachsende Bereitschaft der Grünen zu einer Beteiligung an einer Regierung mit der ÖVP viel profanere Gründe als die Verlockung, endlich einmal aus der Position der Macht etwas umsetzen zu können. Möglich wäre doch, dass bei den Grünen die Angst grassiert, in einer großen Koalition von ÖVP und SPÖ unter die Dampfwalze der Verfassungsmehrheit zu geraten, die Schwarz und Rot zur minderheitenfeindlichen Änderung des Wahlrechts in Gang setzen könnte. Denn bei einer Bundesstaats- und Verwaltungsreform könnten die großen Parteien versucht sein, auch gleich die Anzahl der Abgeordneten zu reduzieren - etwa mithilfe eines Verhältniswahlrechts, das die Kleinparteien an den Rand ihrer parlamentarischen und finanziellen Existenz drängen würde.

Diese Variante hätte für eine große Koalition den Reiz, dass sowohl ÖVP als auch SPÖ ihren frisch erworbenen Besitzstand an Wählerstimmen mittelfristig gegen Versuche der beiden Kleinparteien auf deren Rückeroberung absichern könnten. Oder diese auf längere Sicht zumindest bedeutend schwieriger gestalten würden.

Ob es wirklich klug wäre, sich auf Dauer möglicher Koalitionsformen mit den kleinen Parteien zu berauben, steht auf einem anderen Blatt, und damit verliert auch die Bedrohung, vor der die Grünen zu erstarren scheinen, etwas von ihrem Schrecken: Mindestens genauso groß wie die Furcht vor einer Wahlrechtsreform müsste die vor der Gefahr sein, sich durch eine Regierung mit einem politisch inkompatiblen Partner bei der nächsten Wahl zu halbieren. Das Unangenehme am Verharren zwischen zwei Bedrohungen ist nur, dass man lediglich wählen kann, welcher man sich letztendlich ausliefert. Also werden sich die Grünen bewegen müssen, und zwar bald. (DER STANDARD, Printausgabe, 6.12.2002)