Christiane de Piero am Tag des Gewinns mit "Millionenshow"-Moderator Armin Assinger

Foto: ORF/Badzic

Christiane de Piero ist in einer verzwickten Situation. Sie hat vor vier Wochen eine Million Euro gewonnen. Rundherum freuen sich alle wahnsinnig für sie. Sie will ihnen diese Freude natürlich nicht nehmen. Also freut sie sich mit ihnen. Das ist auf Dauer anstrengend. Wie lange wird sie das durchhalten?

Ich entdecke sie im Café an einem versteckten Tisch, wo sie von Seitenwänden abgeschirmt sitzt. Sie gesteht, dass sie hofft, von niemandem erkannt zu werden. Sie bestellt Tee mit Milch. Es ist kein Spezialtee für Millionäre, sondern so ein Beutel, wo man nie genau weiß, wie lange der vorher wo herumgelungert ist. Ich wähle ebenfalls Tee und frage sie, ob sie glücklich ist. Sie sagt: Ja, es geht ihr gut. Sie sagt das so, wie man es sagt, wenn man nicht weiß, wo man beginnen soll, zu erklären, warum es einem nicht so gut geht, wie sich's die anderen von einem erwarten.

Geboren in Kärnten

Christiane wurde vor 33 Jahren in Seeboden in Kärnten geboren. Vater und Mutter waren berufstätig. "Es war immer Geld da", glaubt sie sich zu erinnern. Zumindest kam ihr nie vor, dass eines gefehlt hätte. Viel brauchte man nicht. Die Winterurlaube fanden in einem netten Nest bei Brixen in Südtirol statt. Dort gab es nur Loipen, keine Skilifte. Die Sommerurlaube: im gleichen netten Nest bei Brixen. Christiane spielte am liebsten mit den einheimischen Kindern "Watten" (so ähnlich wie Bauernschnapsen) gegen die Stammrunde aus dem Wirtshaus. Es ging dabei um viel: Die Saisonsieger erhielten den begehrten Wanderpokal. Später leisteten sich die de Pieros zweimal Flugreisen in die Türkei. "Badeurlaube mache ich erst wieder in der Pension", fasst Christiane ihre Eindrücke zusammen.

In Wien studierte sie Handelswissenschaften, arbeitete für eine Spedition und landete vor einem Jahr dort, wo sie auch heute glaubt hinzugehören: in einer Logistik-Abteilung. Sie strukturiert für Produkte einer Sektkellerei die Abläufe. Wenn wer wissen will, was sie dabei besonders gut können muss: strategisch denken und planen. Das macht sie gern. Und in der Freizeit: ein gutes Buch, ein gutes Glas Wein, gute Unterhaltung, gute Gespräche. Wenn wer wissen will, was ihr im Leben fehlt: eigentlich nichts. ("Eigentlich" heißt, dass einem im Grunde immer etwas fehlt, aber es fällt einem meistens nicht auf.) Materielles ist ihr recht egal. Luxus langweilt sie. Sie ist ein Kulturmensch. Und Kultur hat man in sich, das kostet nicht viel.

Die Sache mit der Millionenshow

Dann kam die Sache mit der Millionenshow. "Ich wollte einfach nur wissen, wie weit ich komme", sagt sie. Sie sagt es in einem Ton, in dem sich jemand vor sich selbst verteidigt. Ja, sie hat sich damals (wie täglich 2000 andere) im Internet beworben. Man hat sie tatsächlich angerufen, getestet und auserwählt. Sie ist nach Köln geflogen. Sie hat ihr Glück versucht. Armin Assinger erwies sich als "netter, lockerer Typ, der einem in die Augen schauen kann". Dass er nicht nach der Schrift redet (was ihm die Intellektuellen vorwerfen), störte sie nicht. Ihr fiel aber etwas anderes auf: Je näher die Aufzeichnung des Ratespiels rückte, desto nervöser wurden ihre Mitkandidaten. Man kommt nämlich gemeinhin aus existenzielleren Gründen hierher, als sich bloß denksportlich zu betätigen. Die einen hoffen auf eine schöne Summe, die sie vorübergehend von den roten Zahlen befreien oder aus der Fadesse des Alltags entlassen könnte. Die anderen träumen vom großen Wurf, der ihr Leben auf den Kopf stellen würde (wo es wegen der geringen Auflagefläche allerdings nicht lange stehen bliebe; daraus erklärt sich der Absturz so vieler Lotto-millionäre nach wenigen fetten Jahren). Christiane de Piero aber beteuert, so wahr ihr Teebeutel jetzt ausgedrückt neben der Tasse liegt: "Ich habe keine Sekunde ans Geld gedacht." - Das war zwar ein Fehler. Aber vermutlich hat sie deshalb die Million gewonnen.

"Ich hatte einen guten Lauf"

Sie siegte in der Vorrunde und beantwortete anschließend alle Fragen richtig. (Vielleicht waren Sie ja unter den 1,5 Millionen, die ihren Erfolg im Fernsehen miterleben durften.) "Ich hatte einen guten Lauf", fällt ihr dazu ein. "Man darf nur nicht zu lange nachdenken", glaubt sie, "und man muss auch seinem Gefühl vertrauen." - Das kann man am besten, wenn man nichts zu verlieren hat. Nichts zu verlieren hat man aber nur, wenn man nichts gewinnen muss. Christiane de Piero musste nichts gewinnen. Vermutlich gewann sie deshalb alles.

Und dann wurde die strategische Denkerin von dieser seltsamen Stimmung erfasst. Sport-reporter nennen so etwas gemeinhin "eine Welle der Begeisterung", auf der etwa ein Skiläufer "ins Ziel getragen" wird. Das machte man auch mit Christiane, als sie die Millionen-Frage richtig beantwortete. Sie erinnert sich an eine künstliche Euphorie, eine ins Positive gekippte Hysterie im Saal: Assingers leuchtende Augen, das Kleschen der Hände, die schrillen Stimmen im Publikum. Später dann die ersten Telefonate, die überschwänglichen Gratulationen, der Glücksrausch ihrer engsten Freunde, das Nicht-wahr-haben-Wollen ihrer Eltern in Seeboden. "Ich bin wirklich kein Mensch, der leicht gerührt ist", sagt sie. Sie sagt es leicht gerührt. - Da waren schon sehr schöne Momente für sie dabei.

Als wäre nichts gewesen

So. Und dann ist mit der Millionärin etwas Ungewöhnliches und beinahe Unverzeihliches geschehen: nichts. Am Abend nach dem Triumph zeichnete sich dieser Zustand bereits ab. Da gab es die erste Millionen-Feier in einem mit Halloween schwangeren Kölner Pub. "Ich hasse Halloween", sagt sie. Damals kam erstmals der Verdacht auf, dass sich Christiane dem Anlass entsprechend zu wenig freue. - Das geht nicht! Man kann nicht öffentlich eine Million Euro abräumen und so wirken, als hätte man ein Handy gewonnen. Damit verletzt man die Gefühle derjenigen, die allein aus der Illusion eines solchen Erfolges Kraft für den jeweils nächsten Tag schöpfen. Die Millionärin braucht nicht zu glauben, dass dieser Sieg nur ihr gehört. Sie hat ihn stellvertretend für all jene errungen, die vergeblich auf so eine Chance warten. Und würden sie die Chance kriegen, so könnten sie sie nicht nützen (weil ihnen Bildung und Unbeschwertheit fehlten). Aber sie wollen wenigstens dabei sein und zusehen, wie sich das Glück, das ihnen niemals selbst vergönnt sein wird, im Gesicht der Siegerin spiegelt. Darauf hat der ORF die Rechte. Das bringt die Quoten. Das finanziert den Preis. Das stellt die Million auf, die die Kärntnerin nun keck davonträgt, als wäre nichts gewesen.

Tut mir Leid, ich hab' das Gefühl, da ist mein Leben, und die Million steht irgendwo daneben", gesteht sie. Immerhin hat sie sich bereits einen Herzenswunsch erfüllt und sich Knaurs Weltatlas geleistet. Dazu noch eine schöne Handtasche aus gar keiner billigen Boutique. Vielleicht gönnt sie sich auch noch einen guten Jahrgang eines Chateau Petrus, "den besten Merlot aus dem Bordeaux". Aber was geschieht mit dem Rest? - Vorsicht, jede Antwort kann gegen sie verwendet werden. Und erst recht: keine Antwort. Denn acht Millionen Österreicher wissen, was sie mit einer Million Euro machen würden. Drei neue Autos, zwei Villen, ein Flugzeug, einmal die Welt umsegeln, einmal aussteigen, nie wieder einsteigen, nie wieder arbeiten, nie wieder Schneeregen im Dezember, für immer Ozean.

Bettelbriefe

Und wer nicht ausgeben kann, muss hergeben: Dutzende Bettelbriefe langten schon bei ihr ein. Strafgefangene haben sich via TV in sie verliebt und ersuchen um eine Hochzeit oder wenigstens um einen symbolischen Beitrag zur Resozialisierung aufs Konto. Eine Schreiberin bewundert die schönen weißen Zähne der Wettkönigin und bittet sie um Unterstützung für ebensolche. Hilfsorganisationen appellieren an ihr großes Herz, welches sich medial würdig abfeiern ließe. "Ich habe immer still und geheim gespendet, ich werde es auch weiter so tun", sagt die Milchteetrinkerin trotzig.

Kann Fortuna derart schadenfroh sein?

Natürlich war Christiane gleich nach der Sendung von Journalisten umgeben. Sie ließ sich geduldig herumreichen, um niemanden zu beleidigen. Die einschlägigen Heile-Welt-Verkündungs-Organe bestraften sie dafür mit den üblichen, peinlich glücksverzerrten Features. Aber es kommt noch skurriler: Jörg Haider schreibt ihr ein Glückwunschtelegramm. Vera und Voyeure buhlen um sie. Karl Moik ruft sie am Handy an und schwärmt: "Sie sind so eine fesche, lustige Frau, wollen wir uns nicht ein bissl gemeinsam unterhalten?" - Musikantenstadl? Ist das der Preis für den Triumph? Kann Fortuna derart schadenfroh sein?

Mittlerweile hat sie sich eine neue Handynummer zugelegt, um nicht mehr ständig belästigt zu werden. Den Supermarkt ums Eck und ihre Stammlokale meidet sie: Nur nicht zu viele vertraute Gesichter sehen! Wer sie auch nur vom Wegschauen kennt, dem muss sie ihr Glück verkünden und ihre Million erklären. Und viele liebäugeln mit einer symbolischen Geste der neuen Qualität ihrer Geldbörse.

Weil wir schon gerade beim Geld sind, frage ich sie, ob ich sie auf den Milchtee einladen darf. Umgekehrt wäre es langweilig gewesen. Also sagt sie ja. (ALBUM, vom 7./8.12.2002)