Demokratie ist ein Grundprinzip unseres politischen Lebens und gilt als hoher, ja einzigartiger Wert. Aber für sich allein stellt die Herrschaft durch die Mehrheit einer Bevölkerung noch keine moralische Größe dar, waren sich Politiker und Politologen, die sich am Wochenende auf der vom Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) und der internationalen Pressevereinigung Project Syndicate veranstalteten Konferenz über Moral und Politik, über die Quellen und Grenzen der Demokratie diskutierten, einig.
Demokratie sei eine praktische Institution für gewaltlosen Machtwechsel, sagte der deutsch-britische Soziologe Lord Dahrendorf. Die einzige moralische Norm sei die "rule of law" (Rechtsstaatlichkeit). Diese bedeutet für Dahrendorf die Trennung von Recht und Religion, die Durchsetzbarkeit des Gesetzes, eine unabhängige und nicht korrupte Justiz und das Vertrauen der Bevölkerung. Rechtsstaat ohne Demokratie sei möglich, und "es führt kein Weg automatisch von der Demokratie zur ,rule of law'", sagte Dahrendorf.
Doch Amy Guttmann, Politologin von der Princeton University, warnte auch davor, zu viel Vertrauen in die Gerichte zu setzen. Die Todesstrafe werde etwa vom US-Höchstgericht als rechtmäßig bezeichnet, obwohl sie in Europa als grausam und unzivilisiert verdammt werde. Das moralische Grundprinzip der Demokratie sei nicht Mehrheitswille, sondern gleiche Staatsbürgerrechte, die etwa europäische Rechtsextremisten einem Teil der Bevölkerung vorenthalten wollen. Deshalb hätten französische Intellektuelle und Medien Recht gehabt, wenn sie eine Stimme für Jean-Marie Le Pen in den Präsidentschaftswahlen als "undemokratischen Akt" verurteilten.
Doch gerade der Vorwurf, undemokratisch zu sein, sei zu einer "Keule in moralischen Diskussionen" geworden, warf Bundeskanzler Wolfgang Schüssel ein. Er verwies dabei weniger auf Kritiker von Schwarz-Blau als auf EU-Skeptiker, die der Union ständig ein demokratisches Defizit vorwerfen, obwohl alle Entscheidungsträger demokratisch gewählt seien. Die Grenzen der Demokratie sieht Schüssel darin, dass Wahlresultate nicht immer klar sagen, wer das Land regieren soll, dass sie noch weniger über die vom Volk gewünschte politischen Inhalte aussagen und dass es manchmal notwendig sei, im Interesse der Allgemeinheit auch gegen den Willen der Mehrheit zu entscheiden - etwa in der Sicherheitspolitik.
Für den britischen Ex-Innenminister Michael Howard sind tagespolitische Entscheidungen in westlichen Demokratien kaum von moralischen Überlegungen bestimmt. Dies gelte etwa beim Kampf gegen Arbeitslosigkeit und selbst bei der Frage, ob man Krieg gegen den Irak führen sollte, sagte er. Entscheidend sei, wie das gewünschte Ziel am besten erreicht werden könne. (Eric Frey/DER STANDARD, Printausgabe, 9.12.2002)