"Es wundert mich, das ich überhaupt so viel Publikum habe"
Elizabeth T. Spira, bekannt durch "Alltagsgeschichte" und "Liebesg'schichten und Heiratssachen", wird 60
Redaktion
,
"Sie und Ihre Produktionen sind eine ganz wesentliche
Marke des ORF und ein Eckpfeiler der Identität von ORF 2." Diese
Zeilen, die ORF-Programmdirektor Reinhard Scolik im vergangenen Juli
an Elizabeth Toni Spira richtete, hängen an einer Bürowand der Wiener
"Cosmos Factory Filmproduktion". Soeben hat die Journalistin mit
ihrem Kameramann Peter Kasperak hier die 56. Folge der
"Alltagsgeschichte" fertig gestellt, die kurz nach Weihnachten
ausgestrahlt wird. Seit 1985 gibt es die Serie, 1997 kam die
TV-Partnervermittlung "Liebesg'schichten und Heiratssachen" dazu. Am
24. Dezember feiert Spira ihren 60. Geburtstag, bereits am Samstag
(14.12.) wird ihr ein Fest ausgerichtet.
"Zuhöhren-Können" als Grundvoraussetzung
17 Jahre sei sie der "Alltagsgeschichte" auf der Spur, und doch
werde sie immer wieder von der Offenheit der Menschen überrascht,
versichert die Filmemacherin: "Für manche Gesprächspartner ist es
eine Art von Befreiung. Es ist oft so, dass uns Leute Geschichten
erzählen, die für sie sehr schmerzvoll waren. Fremden gegenüber ist
das oft einfacher als vor Familienmitgliedern." Das Zuhören-Können
ist eine Grundvoraussetzung für ihren Beruf, doch eines stellt Spira
klar: "Ich bin kein Therapeut, ich bin Reporterin. Es gibt in
Deutschland viele Sendungen, die nicht so tief gehen wie wir, aber
das interessiert mich nicht. Je konkreter der Fall ist, desto mehr
blicken wir in die Seele hinein." Was sie dabei zu sehen bekommt,
"sind im Prinzip meist verletzte Menschen. Mich interessieren die
Verletzungen der Menschen. Das ist vielleicht eigenartig. Andere
sammeln Briefmarken, ich Verletzungen."
Schadet es, nützt es?
Von Kritikern wird Spira oft vorgeworfen, sie stelle ihre
Gesprächspartner aus und nehme sie zu wenig vor sich selbst in
Schutz. "Für uns ist das ein Grenzgang", gibt sie zu, "Ich befrage
mich ständig: Schadet es, nützt es? Ich fühle auch, dass wir hie und
da eine Grenzüberschreitung machen. Meine Urteilsfähigkeit kann
schließlich auch getrübt sein." Praktisch nie komme es vor, dass
Gefilmte die Erlaubnis zur Sendung des Materials wieder zurückzogen,
versichert die Journalistin, schon häufiger fielen Szenen der
Selbstzensur zum Opfer. "Wir haben praktisch bei jeder Folge Szenen,
die private Fernsehanstalten sofort zeigen würden, bei uns aber
rausfliegen", meint Kameramann Kasperak. Dazu zählten etwa Dinge, die
nur bekannte Vorurteile bestätigten.
Interviewten "für sich selbst verantwortlich"
"Was ich natürlich gerne mache ist: Schocken", schmunzelt Spira,
"das liegt in meiner Natur, an meiner Bosheit." Schließlich seien die
Interviewten trotz allem "für sich selbst verantwortlich". Auch die
Verantwortung für Lacher von der falschen Seite, für jene, die ihre
"Alltagsgeschichte" nicht als Oral-History-Dokumente, sondern als
Freak-Show sehen würden, weist Spira zurück: "Ich sage immer: Ich bin
für die Moral meines Publikums nicht zuständig. Es wundert mich ja,
das ich überhaupt so viel Publikum habe." Eine einzige fertig
gedrehte Geschichte ist in all den Jahren nie auf Sendung gegangen -
eine Folge über Stammtische in der Waldheim-Zeit passierte die
Endabnahme der ORF-Spitzen nicht. "Dabei fand ich ihn eigentlich noch
viel zu harmlos."
Sonderstatus
Heute genießt Spira, die nach der "Großfeldsiedlung"-Sendung
(27.12.) die Folge 57 der "Alltagsgeschichte" im Männerheim in der
Meldemannstraße drehen wird, im ORF Sonderstatus: "Ich bin außer
obligo. Ich bin nicht in Pension geschickt worden wie alle anderen
60-jährigen Damen. Mir geht's im Prinzip wunderbar. Ich bin nicht
mehr in der politischen Abteilung, sondern in der Unterhaltung. Also
gelte ich als Künstlerin und habe Narrenfreiheit." (APA)
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