Österreich ist ein schönes Land, in das ich noch immer gerne zurückgekehrt bin. Tatsächlich habe ich bis jetzt kein Land kennen gelernt, in dem ich lieber leben würde. Ich genieße unseren hohen Lebensstandard, sichere Lebensbedingungen, faire Berufschancen und eine weit gehend intakte Umwelt.

Kein Wunder, ich bin männlich, weiß, gut ausgebildet, habe einen interessanten Beruf und einen österreichischen Reisepass.

Wenn ich den Verantwortlichen dieser Republik zuhöre, wie sie über die vollständig verwirklichten Menschenrechte in Österreich sprechen, fühle ich mich so richtig als durchschnittlicher Österreicher, der von zirka acht Millionen ziemlich ähnlichen Exemplaren umgeben sein muss. Denn verwirklichte Menschenrechte bedeuteten nichts weniger als "alle Rechte für alle" und nicht etwa "alle Rechte für eine privilegierte Minderheit".

Absurde Fiktion

Das Problem ist, dass diese privilegierte Minderheit in Österreich relativ groß ist, dass es daher nur relativ kleiner Scheuklappen bedarf, um diese Absurdfiktion verwirklichter Menschenrechte relativ einfach als Realität zu verkaufen und erleben zu können. Legen wir also diese Scheuklappen einmal ab, starten einen Diagnosedurchgang und unterbreiten einige Therapievorschläge:

Erstens, das Krebsgeschwür Diskriminierung, in Österreich immer noch in die Kategorie Kavaliersdelikt eingeordnet:

Frau, Akademikerin, fünf Jahre Managementerfahrung, wird beim Bewerbungsgespräch mit der größten Selbstverständlichkeit gefragt, ob sie plant, in den nächsten Jahren schwanger zu werden.

Ein junger Mann, einwandfrei im Anzug gekleidet, allerdings nicht ganz heller Hautfarbe, hört vom Türlsteher einer Innenstadtdisco den Stehsatz "Bedaure, das ist ein privater Klub", während andere, weiße Erstbesucher kommentarlos Einlass finden.

In der Kriminalberichterstattung wird die pseudo-korrekte Floskel "... verdächtigt werden zwei Österreicher ausländischer Abstammung" verwendet, in Kleinanzeigen wird "Servierpersonal, nur Inländer" statt vielleicht "Servierpersonal mit Deutschkenntnissen" gesucht.

Der einzige Aufzug in der U-Bahnstation (so überhaupt vorhanden) ist tagelang außer Betrieb, Menschen im Rollstuhl sind damit von der Benützung öffentlicher Verkehrsmittel ausgeschlossen.

Häufig werden bei Drogenrazzien Menschen schwarzer Hautfarbe herausgepickt oder Unterstandslose bei Amtshandlungen geduzt. Fast jeder der Verantwortlichen würde wohl irgendeinen pseudo-objektiven Grund für sein Handeln nennen können, kaum einer verstehen, dass er soeben die Würde eines Menschen verletzt hat.

Überfälliges Gesetz

Therapievorschlag: Schaffung eines Antidiskriminierungsgesetzes, das jeder Mensch mit Grundschulbildung kennt und versteht, mit klar formulierten Tatbeständen, wirksamen Schadenersatzbestimmungen und, wo notwendig, wohl überlegten Strafen - ein entsprechender, komplett ausformulierter Gesetzesvorschlag einer größeren Gruppe von österreichischen nicht staatlichen Organisationen liegt dem Nationalrat seit Jahren vor. Bisher fand allerdings nicht einmal die sonst bei komplexeren Themen übliche "parlamentarische Enquete-Diskussion" statt. Vielleicht ist in der kommenden Legislaturperiode dafür endlich Zeit?

Zweitens, das Thema Asyl: Entweder stellt die nächste Bundesregierung klar und eindeutig fest, dass sie der österreichischen Bevölkerung asylsuchende Menschen nicht mehr zumuten will und tritt aus der Genfer Flüchtlingskonvention - und damit gleichzeitig aus der EU und dem Europarat - aus, oder sie nimmt das Asylrecht ernst und hört endlich auf, die Begriffe Migrationspolitik und Asylrecht zum Unwort Asylpolitik zu vermischen, andere Optionen gibt es nicht.

Mangelnde Kontrolle

Therapievorschlag: Schaffung ausreichender Ressourcen, um Asylverfahren rechtsstaatlich einwandfrei und zügig abwickeln zu können samt menschenwürdiger, öffentlich sicher gestellter Versorgung der Betroffenen während dieser Verfahren. Das wäre vermutlich sogar billiger als der derzeitige, menschenverachtende Absurdzustand.

Drittens, der staatliche Umgang mit menschenrechtlicher Kontrolle und Evaluierung: Die Schaffung eines Menschenrechtsbeirates unter den Fittichen des Innenministers vor gut drei Jahren war ein erster positiver Schritt, der bereits einiges bewirkt hat. Der unbefriedigende Umgang des Beirates mit der Causa eines seiner Kommissionsmitglieder, das von der von ihm zu kontrollierenden Polizei festgenommenen und dabei inakzeptabel gedemütigt wurde, zeigt die Grenzen eines paritätisch mit beamteter und unabhängiger Expertise besetzten Gremiums auf. Die mäßig effizienten Haftprüfungskommissionen im Justizbereich sind ein weiteres ungelöstes Problem.

Therapievorschlag: Ausweitung der Kompetenzen und Ressourcen des Menschenrechtsbeirates auf den gesamten Bereich staatlicher Eingriffe in die persönliche Freiheit, organisatorische Trennung von der Exekutive, Umbenennung in Menschenrechtskommission und Anbindung an das Parlament in Analogie zum Rechnungshof.

Entsprechend dem fachärztlichen Prinzip, nur im Bereich der eigenen Fachkunde tätig zu werden, habe ich mich in meinen Diagnosen und Therapievorschlägen auf die klassischen Amnesty-Themen beschränkt. Im Sinne einer ganzheitlichen menschenrechtlichen Therapie gälte es noch manch anderes anzusprechen. Die angebotenen Akuttherapievorschläge haben aber den Vorteil, relativ einfach und rasch verwirklicht werden zu können - warten wir also ab, wie es der Patientin am nächsten Internationalen Tag der Menschenrechte, am 10. Dezember 2003, gehen wird. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.12.2002)