Eigentlich ist die Sache längst entschieden: Auf dem EU-Gipfel von Helsinki vor drei Jahren erhielt die Türkei offiziellen Kandidatenstatus. Damit ist klar, dass die Union Ankara spätestens dann ein Datum für den Beginn von Beitrittsverhandlungen nennen muss, wenn die Türkei die politischen und rechtsstaatlichen Voraussetzungen dafür erfüllt.

Wenn nun aus der EU verstärkt Bedenken geäußert werden, ob die Türkei überhaupt in die Union passe, kann dies nur zwei Ursachen haben: Entweder das Angebot war nicht ehrlich gemeint, oder die Europäer bekommen kalte Füße, weil sie glauben, die Konsequenzen nicht ausreichend bedacht zu haben.

Aber gleichgültig, welche Vermutung zutrifft - die Folgen wären in jedem Fall fatal. Die Proeuropäer in Ankara müssten sich verraten vorkommen. Dass dies Wasser auf die Mühlen islamischer Extremisten nicht nur am Bosporus wäre, kann man sich unschwer vorstellen.

Die meisten Einwände gegen eine EU-Mitgliedschaft der Türkei treffen - derzeit - zu: Es gibt, trotz eingeleiteter Reformen, noch immer große Defizite bei Menschenrechten und Minderheitenschutz; die Demokratie scheint nicht nachhaltig gefestigt; das Militär steht nicht unter demokratischer Kontrolle und ist die eigentliche Macht im Staat. Diese Argumente können aber ebenso für eine klare Beitrittsperspektive seitens der EU angeführt werden: im Sinne eines ständigen Ansporns zu noch entschlosseneren Reformen. Dass für die Türkei die gleichen Kriterien gelten wie für alle anderen Kandidaten, ist ohnedies klar. Bleiben zwei gewichtige Einwände. Erstens: Als Land, dessen größter Teil in Asien liegt, würde die Türkei die EU allein geografisch überdehnen. Und, vor allem, zweitens: Als muslimisches Land würde die Türkei das Wesen Europas als einer christlich geprägten Kultur verfremden.

Das Argument der Überdehnung ist im Grunde ein institutionelles: Nicht die Größe, sondern die Entscheidungsfähigkeit wird das künftige geopolitische Gewicht der EU bestimmen. Dabei scheint eine differenzierte Integration unvermeidlich: im Zentrum ein "Kerneuropa" mit fortschreitendem Verzicht auf nationale Souveränität und darum herum, in unterschiedlicher Abstufung, eine Werte- und Wirtschaftsgemeinschaft.

Was aber eine vermeintliche islamische Gefahr für Europa betrifft: Gründungsphilosophie der Türkei ist gerade die Trennung von Staat und Religion. Es kann aber nicht im Interesse Europas sein, dass die Armee Hüter dieser laizistischen Verfassung bleibt. Hier bietet sich die Chance, exemplarisch jene konstruktive Auseinandersetzung mit einem Islam zu führen, der sich bis heute nicht der Moderne gestellt hat: zu beweisen, dass Demokratie und muslimischer Glaube einander nicht ausschließen. Da die USA diese Auseinandersetzung, aus welchen Gründen immer, nicht führen, liegt die Verantwortung umso mehr bei Europa. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.12.2002)