Er hat es sich schön eingerichtet in der Wolke der Balladen, Meister Charles Lloyd, und ihn dort zu besuchen, macht immer wieder Sinn. Man entdeckt die Schönheit der Langsamkeit, und auch, dass Intensität nicht unbedingt etwas mit Lautstärke, Ekstase und vielen Noten zu tun haben muss. Lloyd packt die Töne in Watte, ist ganz schmuseweicher Erzähler, er erstarrt dabei jedoch nicht zur Saxofon-Säule eines Tempels der Stimmungen (wir denken da an Jan Garbarek - als nicht sehr positives Beispiel). In seinem Spiel schimmert nach wie vor auch die Erfahrung mit, dass es einen John Coltrane gegeben hat, der die Fragmentierung einer melodischen Floskel durch abrupt einsetzende Tonleiter-Kaskaden etabliert hat. Das lässt sich auf Lift Every Voice (ECM/Lotus) am Traditional Wayfaring Stranger beobachten. Auf modaler Basis geht Lloyd vom sanften Gesang zu hymnischer Verzückung über - da brodelt es ziemlich, alles geht in Richtung freitonales Spiel. Ein guter Miterzähler mit Lloyd in der Balladenwolke: John Abercrombie ist einer der subtilsten Feinmechaniker der Gitarre - eine Art zeitgemäßer Jim Hall. Geri Allen am Klavier ist hilfreich; sie zieht die Sache mitunter aber doch zu sehr in Richtung glatt-harmloser Mainstream. Nicht, dass wir von Lloyd hier, bei dieser Mischung aus Eigenkomponiertem und bekannten Hadern etwas grundsätzlich Neues bekommen. Das ist eben das Gute. Er hat ein eigenes Ausdrucksidiom gefunden. Und es macht süchtig. (tos / DER STANDARD, Printausgabe, 13.12.2002)