Daniel Barenboim, Dirigent, Pianist, Jude, Wagner- und Palästinenserfreund, dirigiert am Sonntag und am Dienstag die Wiener Philharmoniker im Musikverein. Im Jänner kommt er mit seiner Berliner Staatskapelle wieder.
Wien - Von der Ferne klingt's schon ganz gut, wenn auch etwas herb: Schönbergs Orchesterstücke op.16. Daniel Barenboim probiert sie mit den Wiener Philharmonikern. Das nimmt einen ganz schön her. Kein Wunder, dass er danach sichtlich geschlaucht gleich bei Betreten des Künstlerzimmers einen Kaffee mit Milch bestellt.
Den Einwand, dass Kaffee, mit Milch getrunken, nicht so besonders gesund ist, schlägt er mit seiner kräftigen Rechten, als würde er einen falschen Einsatz stoppen, lachend in den Wind.
Barenboim: "Gesund! Gesund! Was ist schon gesund! Ich habe einen Freund, ein hervorragender Geiger übrigens, der hat sein ganzes Leben gesund gelebt. Kein Alkohol, kein Fleisch. Neun Monate im Jahr hat er im Freien geschlafen - stellen Sie sich das einmal vor: Neun Monate im Freien schlafen! Rauchen - natürlich auch nicht. Und was ist? Jetzt hat er Krebs. Ganz schrecklich. Überall. Und er fragt mich jetzt: Warum bin ich so krank? Warum habe ich in meinem Leben auf alle schönen Dinge verzichtet? Ja, ja, viele schönen Dinge sind eben ungesund."
Wie zur Bekräftigung seiner hedonistischen Sentenz holt der wendige Pykniker mit sympathischem Embonpoint das gerippte Lederetui aus dem Jackett, und schon glimmt heimelig die Zigarre von Fidel Castros Gestaden.
Daniel Barenboim genießt das Diesseits. Mit Metaphysik und anderem nebulosen Schmus hat er nichts am Hut. Er hat für alles eine sehr einfache Erklärung. Zum Beispiel auch für die Tatsache, dass das schwätzende und wetzende Bayreuther Publikum am Beginn der von ihm geleiteten Aufführungen, obwohl der Dirigent und das Orchester im Wagner-Tempel unsichtbar sind, vor dem ersten Einsatz plötzlich verstummt. Wie das?
Barenboims Antwort klingt verblüffend lakonisch: "Ich warte eben, bis alle ruhig sind." Dass manche seiner Kollegen auf diese Stille lange warten müssten, ist freilich nicht sein Kaffee, den er sich mittlerweile (und mit Milch) gut schmecken lässt.
Diesen Genuss lässt er sich auch durch die provokant lapidare Frage nicht trüben, wie er es den fertig bringt, dass ein Riesenorchester wirklich gleichzeitig einsetzt und auch gleichzeitig aufhört.
Barenboim: "Das ist ganz einfach. Der Dirigent und das Orchester müssen mit einer Lunge atmen. Einatmen und ausatmen. Und wenn das nur ein Einziger nicht macht, geht es nicht. Das ist alles."
Das ist nicht nur "alles", das ist auch sehr viel. Da hat man es als Pianist schon leichter. Als pianistisches Wunderkind hat Barenboim seine Laufbahn ja begonnen. Und auch diesmal spielt er den Solopart in Beethovens drittem Klavierkonzert. Aber wie ist das mit dem Üben? Hat man als Dirigent überhaupt Zeit dazu?
Barenboim: "Also in meiner Jugend wollte ich überhaupt nicht üben. Ich habe das gehasst. Ich habe irgendwie gespielt. Aber wenn man einmal sechzig ist, da muss man einfach die Muskeln trainieren. Die Finger laufen nicht mehr von selber. Jetzt übe ich wirklich sehr gerne - und sehr viel. Ich habe mir von der Staatsoper ein halbjähriges Sabbatical genommen und in diesen sechs Monaten fast nur Klavier gespielt. Jetzt ist das Üben eine Freude für mich."
Da könnte es doch sein, dass er sich beim Klavierspielen hin und wieder an seine 1987 verstorbene Frau erinnert, die Cellistin Jacqueline Du Pré, deren Duopartner er war.
Barenboim: "Ich denke sehr oft an sie. Ich habe vor ihr und nach ihr keinen so musikalischen Menschen kennen gelernt wie sie. Musikalisch oder musikalischer Instinkt - das ist alles zu wenig, um ihre Musikalität zu beschreiben. Sie hat die Musik in sich gehabt. Sie war Musik."
Aber was ist Musik? Was kann sie? Was lässt sich durch Musik im Zuhörer bewirken? Kann sie ihn verändern? Was kann er bewirken, wenn er als Jude etwa an der palästinensischen Birzeit-Universität ein Klavierkonzert gibt?
Barenboim: "Musik ist - zumindest für mich - so etwas Ähnliches wie die Religion. Musik ist unteilbar wie Gott in den monotheistischen Religionen. Der Mensch aber ist dreigeteilt: in Hirn, Herz und Bauch, in Gedanken, Gefühle und Emotionen. Bei dem einen dominieren die Emotionen - in der Jugend zum Beispiel -, beim anderen die Gedanken und bei einem Dritten die Gefühle. Die Musik kann in den besten Momenten einer Aufführung diese drei Sphären harmonisieren. Das hat überhaupt nichts mit äußerer Schönheit zu tun."
Aber wohl viel mit dem Frieden. Und vielleicht doch auch mit Interpretation?
Barenboim: "Ich halte allein schon das Wort Interpretation für falsch. Bei einer Aufführung ist nichts anderes wichtig, als die Töne, die erklingen, zueinander in die richtige Beziehung zu setzen. Man muss das Folgende durch das Vorangegangene und das Vorangehende durch das Folgende rückwirkend rechtfertigen.
Man kann eine Partitur lesen, sich vorstellen, eine Stelle etwas lauter zu nehmen und eine andere wieder langsamer. Aber dann kommt die Aufführung. Sie wird nicht durch Absichten gerechtfertigt, sondern durch die Töne. Und diese sind zunächst einmal nichts anderes als physikalische Phänomene. Sie haben stets die Tendenz zur Stille. Das ist so etwas wie ein Gesetz. Wie die Gravitation, die bewirkt, dass Gegenstände auf den Boden fallen."
Wie die Zigarrenasche auf das behäbige Lederfauteuil. (DER STANDARD, Printausgabe, 14./15.12.2002)