Paris - Die linksliberale französische Tageszeitung "Liberation" (Paris) befasst sich am Samstag kritisch mit dem Verhalten der Beitrittsländer auf dem EU-Erweitertungsgipfel in Kopenhagen: "Bevor man das (Türkei-)Dossier in Angriff nimmt, wird Europa eine ebenso schwierige Herausforderung bewältigen müssen - die der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Integration der zehn EU-Beitrittsländer. Der Gewaltmarsch der Erweiterung hat die Risiken einer institutionellen Ohnmacht vervielfacht. In Kopenhagen hat man bereits miterleben können, dass Polen, aber auch andere Beitrittsländer noch vor ihrer Aufnahme im Club lautstark auf ihre Rechte gepocht haben - oder in der besten Tradition der europäischen Küche auf das, was sie in Euro kalkuliert in die Kasse bekommen wollen. Das Schlimmste wäre, wenn sich nach diesem historischen Tag nichts ändern würde, außer an der Größe der Probleme." Teppichhändler-Gefeilsche Die unabhängige französische Tageszeitung "Le Monde" (Paris) schreibt am Samstag: "Fast hätte man über dieses Teppichhändler-Gefeilsche - ein Ausdruck, der von mehreren Teilnehmern (des EU-Gipfels in Kopenhagen) benutzt wurde - das Wesentliche vergessen: das Wiederfinden Europas, des Ostens und des Westens, das sich geteilt durch den Eisernen Vorhang unabhängig voneinander entwickelt hat und zeitweilig, während der 40 Jahre des Kalten Krieges, auch gegeneinander. Die Brüder im Osten täuschen sich darüber nicht. Sie sehen in der Aufnahme der acht alten Länder der früheren sowjetischen Einflusszone die Wiedergutmachung einer Ungerechtigkeit. Keine Erweiterung, sondern eine Wiedervereinigung Europas. Sie wollen den Satz wahrmachen, den der frühere Vorsitzende der (deutschen) Sozialdemokraten, Willy Brandt, am Abend des Mauerfalls im November 1989 gesagt hat: 'Jetzt wächst zusammen, was zusammen gehört'." Letzter Ziegel der Berliner Mauer gefallen Die Mailänder Tageszeitung "Corriere della Sera" kommentiert am Samstag: "Der letzte Ziegelstein der Berliner Mauer ist in Kopenhagen gefallen, und wenig zählt, dass am Ende die Buchhalter mehr Geschichte geschrieben haben als die Politiker. Der Finanzstreit zwischen Polen und den Fünfzehn konnte nicht länger dauern, die Eigeninteressen konnten nicht den epochalen Befreiungsschlag der Länder, die von der ehemaligen Sowjetunion gepeinigt wurden, plus Slowenien, Malta und Zypern verhindern. ... Trotzdem offenbart das Fest der Erweiterung, während es mit verspäteter Begeisterung die geopolitischen Realitäten des Postkommunismus festschreibt, auch ein starkes Gefühl der Besorgnis. Unter den 15 kann noch keiner sagen, wie das Europa der 25 und dann der 27 (mit Rumänien und Bulgarien) funktionieren wird." NZZ:Ergebnis kann sich sehen lassen Zu den Beschlüssen des EU-Gipfels von Kopenhagen schreibt die "Neue Zürcher Zeitung": "Es ist verlockend, in der Aufnahme neuer Mitglieder vorwiegend aus dem Osten des Kontinents in die Europäische Union eine Art Wiedervereinigung nach deutschem Muster zu sehen. Der reiche, überlegene Westen nimmt den armen Osten in die Arme und gibt ihm endlich, 13 Jahre nach dem Niederreißen der Berliner Mauer, von seinem Überfluss etwas ab. Man kann die Dinge aber auch ganz anders sehen: Der dynamische, hungrige Osten entschlackt einen verkalkten, satten Westen, der seiner Wohlfahrtssucht nicht abschwören will und Hilfe von außen für eine Entwöhnungskur braucht. Weil beide Betrachtungsweisen einen Teil der Realität spiegeln, ist die in Kopenhagen beschlossene Osterweiterung eine Großtat, derer sich das fortschreitende 'Projekt EU' zu Recht rühmen darf. Es hat lange gedauert, doch das Ergebnis kann sich sehen lassen." (APA/dpa)