Am Anfang war das Hineinstarren in das Bild. Irgendwann kam die Erkenntnis. Wie das ALBUM bereits im Vorjahr berichtete, entdeckte der Wiener Dietmar Gössweiner im Bild Johannes der Täufer von Leonardo da Vinci einen doppelten, bisher nicht wahrgenommenen Bildinhalt: Bei genauer Betrachtung und tiefer Versenkung erkennt man, dass der Mann mit den seltsam definierten Armen und dem Schieleblick auch noch die Darstellung eines katzenhaften Kopfes ist, der dem Betrachter, so einmal erkannt, geradezu zuzublinzeln scheint.Gössweiner begab sich nach seiner durchaus aufregenden Entdeckung auf eine Studienreise durch die klassischen Werke der Malerei, er begann plötzlich in diesen Bildern noch weit mehr zu sehen und fasste diese Erkenntnisse in ein Buch. Das liegt nun druckfrisch vor und ist ein interessanter Spaziergang der anderen Art durch Wohlbekanntes, oft Gesehenes, nur - der Autor weist, auch mit Hilfe eines gekonnten Layouts und mit Seh-Anleitungen, auf eben diese unbewussten Formen, Gesichter, Fratzen hin, die bislang nicht wahrgenommen wurden. Die Reise führt durch die gesamte Kunstgeschichte, von Giotto über Dürer, Vermeer, Rembrandt bis hin zu Manet und Gauguin. Der Autor ist überzeugt: "Erstmals wurde ein Teil des Unbewussten sichtbar. In konkret erkennbaren Bildinhalten. Wesentlich dabei: Diese Bildinhalte stehen im Gegensatz zum Gesamt-Bild. Und: Sie wurden bisher nicht gesehen. Die un-bewussten Bildinhalte wurden über-sehen. Sie sind Gegen-Bilder, die wie von selbst im Werk mit-entstehen und mit-wirken." Gössweiner lässt den Betrachter in seiner Spannung allein, er verrät die verborgenen Inhalte nur gelegentlich, er nimmt den Betrachter vielmehr bei der Hand, gibt Tips, wie der zu schauen hat und zieht sich dann sozusagen selbst in Betrachtung zurück. Die Bilder beginnen tatsächlich, so man sich Zeit nimmt, ein Eigenleben zu entwickeln, erst verschwimmt der Blick, dann plötzlich springt klar ins Auge, was Gössweiner meint. (Ute Woltron, DER STANDARD, Album, Printausgabe vom 14./15.12.2002)