Es ist ja alles wahr, was am Erweiterungsgipfel von Kopenhagen nach glücklich erfolgter Einigung an wohlklingenden Sentenzen für die Nachwelt abgesondern wurde ("Das größte historische Ereignis seit dem Fall der Berliner Mauer" - Spaniens Aznar; "Die Fesseln von Jalta sind endgültig abgestreift" - Polens Leszek Miller). Nun, mit der Aufnahme von zehn neuen Staaten, überwiegend aus dem ehemals kommunistischen Osteuropa, ja ehemaligen Teilstaaten der Sowjetunion wie den Baltenländern, muss sich nur noch bei den Bevölkerungen in West und Ost Europa als Lebensgefühl einstellen. Nicht als pathetische Selbstaufforderung, den "Europagedanken zu wahren und zu fördern", sondern als simples Gefühl, dass es da ein größeres Zuhause gibt, in dem man ungehindert reist, studiert, arbeitet und Geld verdient.

Das ist zunächst einmal ein Elitengefühl und wird es für lange Zeit auch bleiben. Wenn auch die Mehrheiten in den Mitgliedsländern die EU letztlich doch irgendwie für eine gute Sache halten, so wird es immer eine relativ starke Minderheit mit allen möglichen berechtigten und unberechtigten Ressentiments geben. Und nur eine relativ kleine Elite wird die vollen Vorteile der "immer engeren Union" bewusst wahrnehmen - in Form von leichteren Wirtschaftsbeziehungen, höherer persönlicher und beruflicher Mobilität, mehr Welt-offenheit insgesamt.

Das Schwierigste dabei wird es sein, besonders für die Österreicher, dieses Europagefühl auch auf die mittel- und osteuropäischen Staaten auszudehnen. Das hat lange zurückreichende Wurzeln. Ungarn, die damalige Tschechoslowakei, Polen haben uns zwar in den 50er-, 60er- und den frühen 80er-Jahren beschäftigt, weil wir die damaligen Versuche, die sowjetische Herrschaft abzuschütteln und/oder wenigstens zu mildern, mit mehr oder großer Anteilnahme verfolgten. Wir trieben auch fleißig "Osthandel" - aber wie die Menschen dort konkret leben, wie sie sind und was wir vielleicht mit ihnen anfangen könnten - das war eine Sache, auf die man sich auch in den Eliten nicht allzusehr einließ.

Und selbstverständlich herrschte ein kulturell-völkisches Überlegenheitsgefühl vor, das auch heute anhält, wenn man den Subtext etwa vieler Temelín-Gegner ansieht: diese Tschechen sind doch gar nicht imstande, mit einer so komplizierten und gefährlichen Technik fertig zu werden.

Zum Glück scheint sich das zumindest bei den jungen und jüngeren Eliten zu ändern. Kürzlich gab es einen Bericht im ORF, wonach die Ostsprachen einen Boom erleben. Kaum eine Woche vergeht ohne eine Meldung über eine neue Bank- oder Unternehmensniederlassung in einem Beitrittsland oder einem anderen Reformstaat.

So, wie spätestens seit unserem EU-Beitritt Studenten und jüngere Berufseinsteiger besser daran tun, eine Zeit im westlichen Ausland zu verbringen, so hat sich das längst auch für Mittel-und Osteuropa empfohlen. Ohne in Habsburger-Nostalgie zu verfallen - Mittel-, Ost- und Südosteuropa ist unser natürlicher Raum für wirtschaftliche und geistige Kooperation. Vor diesem Hintergrund ist es Selbstverstümmelung, wenn die Politik dieser Regierung und die natürliche Schikanenneigung unserer Bürokratie dazu geführt hat, dass eine österreichische Hotel-Kette ihre Osteuropa-Zentrale von Wien nach Prag verlegt, weil die jungen trainees aus Osteuropa hier keine Arbeitsgenehmigung bekommen.

Die österreichische Bevölkerung, die anfangs überwiegend gegen die Erweiterung war, hat sie resignierend und pragmatisch akzeptiert. Übrigens eine österreichische Grundhaltung: instinktiv zuerst gegen eine Veränderung sein, dann mürrisch dulden, anstatt von vorne herein zu überprüfen wo die eventuellen Chancen lägen. Diesmal könnten wir es wirklich einmal anders machen. hans.rauscher@derStandard.at (DER STANDARD, Printausgabe, 17.12.2002)