Josef Kirchengast

Die Erweiterung der Europäischen Union ist besiegelt, aber noch lange nicht bewältigt. Weder mental noch materiell noch politisch. Auch nach dem Kopenhagener Gipfel mit all seinen Beschwörungen der historischen Tragweite des Ereignisses haben sehr viele Bürger in der "alten" EU noch nicht wirklich begriffen, worum es hier geht: um einen Umbruch, wie er in seiner Tiefen- und Breitenwirkung bisher nur als Folge kriegerischer Katastrophen vorstellbar war.

Dabei erstaunt immer wieder, wie schwach dieses Bewusstsein gerade in Österreich ausgeprägt ist, das allen Prognosen zufolge einer der größten Nutznießer der Erweiterung sein wird. Laut dem neuesten "Eurobarometer" ist der Anteil der erklärten Erweiterungsgegner sogar deutlich gestiegen, von 24 Prozent im September 2002 auf 32 Prozent im November. Der Anteil der Befürworter sank leicht von 60 auf 59 Prozent.

Vor diesem Hintergrund, der sich großteils durch schlichtes Nichtwissen erklärt, sind Bücher wie dieses nicht genug zu würdigen. Im vorliegenden Fall analysiert der Autor, europäischer Beamter seit 1984 mit Spezialgebiet Erweiterung und derzeit Direktor an der Asien-Europa-Stiftung in Singapur, detail-und faktenreich den politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Reformweg der zehn mittelosteuropäischen EU-Kandidaten und Kroatiens seit 1989.

Dabei wird klar, dass dieser - bei allen noch vorhandenen Defiziten - insgesamt erfolgreiche Weg keineswegs so zwangsläufig war, wie es im Rückblick erscheint. Und dass er, wie der Autor treffend schließt, "etliche beherzigenswerte Lektionen für unsere akut revitalisierungsbedürftigen Gesellschaften" (in Westeuropa) bereithält.
(DER STANDARD, Printausgabe, 18.12.2002)