Ms. Dynamite: "A Little Deeper"
Dance gegen Gangster

Foto: Universal

Beinahe ein halbes Jahr musste vergehen, bis dieses in mehrfacher Hinsicht erstaunliche Debütalbum auch auf dem Kontinent veröffentlicht wurde. Während daheim in Großbritannien Ms. Dynamite vom Erfolg ihrer CD A Little Deeper schon wieder derart gelangweilt ist, dass sie anstatt auf eine langweilige Promotion-Tournee durch Dritte-Welt-Länder wie Deutschland und dessen drittgrößten Tonträgermarkt der Welt lieber daheim in London ins Studio geht und gleich ein Nachfolgealbum produziert, findet die Veröffentlichung des ersten Albums von Ms. Dynamite hier im Dezember unter weitgehendem Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Warum denn auch etwas Neues, Relevantes hören, wenn man bei derselben Firma vor Weihnachten die x-te Best-of- und Originalalben-aus-den-60er-Jahren-Auflage alter Stinker wie Rolling Stones oder Bono Vox und seine Heilsarmee bekommt? Krieg den Hütten, Friede den Palästen!

Mit gerade einmal 21 Jahren hat Niomi McLean-Daley aus Nordlondon allerdings schon eine einschlägige Vergangenheit vorzuweisen. Gerade auch was kriegerische musikalische Handlungen angeht. In Großbritannien wurde die Tochter eines jamaikanischen Vaters und einer schottischen Mutter schon vor ein, zwei Jahren bekannt, als Mitglied der umstrittenen 23-köpfigen, Stileelemente aus HipHop, UK-Garage, R'n'B, Drum and Bass und jamaikanischen Raggamuffin' koppelnden So Solid Crew, mit der sie den Hit They Don't Know einspielte.

Die So Solid Crew brachte es wegen ihrer anstößigen und gewaltverherrlichenden Macho-Texte von willig die Beine breit machenden Superludern und sympathischen, aber harten und gerechten und leider nebenan in der Nachbarschaft wohnenden Gangstern wie du und ich und diversen Schießereien bei Konzerten immerhin zu einem lebenslänglichen Auftrittsverbot in Großbritannien. Ms. Dynamite entschied sich im Zweifel lieber für das Singen anstatt für weitere Verstöße gegen das britische Waffengesetz. Mit der ersten eigenen Single Boo! und ihren fröhlich ratternden, turbofrisierten Reggae-Rhythmen landete sie einen veritablen Underground-Hit in den Clubs, um auf dem Album A Little Deeper auch inhaltlich eine Wende zu vollziehen.

Zwar gibt Ms. Dynamite in diversen Interviews lieber Malcolm X als Martin Luther King als Vorbild an. Nachdem sie allerdings mit 15 von zu Hause weggelaufen war und eine einschlägige jugendkriminelle Vergangenheit hinter sich gebracht hat, wird heute gegen das aufgeblasene Gangster- und Macho-Image ihres früheren Umfelds kräftig gesungen und gerappt. So stellt Ms. Dynamite nicht nur das Angebertum ihrer männlichen Kollegen in das gleißende Licht einer humorigen Sozialkritik. Bezüglich Statussymbolen wie dicken Rolex-Uhren wird dann auch schon einmal gefragt, wie viele Afrikaner wohl für die Diamanten darauf gestorben sein mögen. Keine Sorge, das klingt nur auf dem Papier wie eine gefährliche Drohung Richtung Musik mit Zeigefinger. Da Ms. Dynamite mit ihren diversen Musikern und Produzenten die oft harsche Sperrigkeit der So Solid Crew heute mit etwas pflegeleichteren HipHop-Rhythmen und einer leichten Hand für zielsichere Samples wie etwa jenes von einem Tango-Akkordeon verdünnt, ist so ein leider etwas gar zu spätes Popalbum für den Sommer 2002 herausgekommen. (Christian Schachinger/ DER STANDARD Printausgabe, rondo, 20.12.2002)