"Material breach", erhebliche Verletzung, nämlich der UN- Sicherheitsratsresolution 1441 durch den Irak, das ist hier die Frage - die über Krieg und Frieden entscheiden wird. Man sollte meinen, zu einem Urteil, ob so ein Verstoß vorliegt oder nicht, kann der Sicherheitsrat auf Basis des Berichts von Unscom-Chef Hans Blix über das irakische Waffendossier leicht kommen. Weit gefehlt: Nicht einmal die USA und Großbritannien und auch nicht die US-Regierung intern (was, boshaft gesagt, vielleicht weniger ungewöhnlich ist) sind sich bis ins Detail darüber einig, was denn so einen "material breach" darstellt. Konkret: Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, ob von Blix und anderen Experten konstatierte "Lücken" im Bericht für so ein Verdikt genügen oder ob dem Irak eine Verletzung seiner Offenbarungspflicht auch "on the ground" nachgewiesen werden muss.

Warum das so ist, erklärt sich aus der Entstehungsgeschichte von 1441: Nach wochenlangem Ringen kam die Resolution als Kompromisspapier zustande, das eben jedes Sicherheitsratsmitglied ein bisschen so lesen kann, wie es will. Die Ambiguitäten sind also kein Versehen, sondern waren quasi Bedingung fürs Zustandekommen.

So ist in der Resolution auch nicht festgelegt, was nach der Feststellung einer erheblichen Verletzung genau passiert: eine Debatte im Sicherheitsrat ja, aber keine Verpflichtung für die USA, auf eine neue Resolution zu warten, die sie zur Anwendung von Gewalt ermächtigen würde. Allerdings hat sich in den vergangenen Wochen insofern etwas geändert, als sich Großbritannien, das auch in der "material breach"-Frage einen vorsichtigen Kurs fährt, immer klarer zum multilateralen Vorgehen bekennt, vorwiegend wohl aus innenpolitischen Gründen. Aber warum auch immer: Es bleibt nicht ohne Einfluss auf Washington, wo diesmal das Urteil auch nicht so schnell gefällt wurde.(DER STANDARD, Printausgabe, 20.12.2002)