Der türkische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer ist für seine Prinzipientreue bekannt. Besonders in Rechtsfragen ist der vormalige Präsident des Verfassungsgerichts zu keinen politischen Kompromissen bereit. Das hat bereits die frühere Regierung Ecevit mehrfach schmerzlich erfahren müssen, und dies erlebt nun auch die neue Regierung.

Die Haltung Sezers, kodiertes Recht über politische Opportunität zu stellen, war und ist für die politische Kultur in der Türkei eine heilsame Erfahrung. Frühere Präsidenten wie Suleyman Demirel waren da nicht so kleinlich und haben damit der Durchsetzung des Rechtsstaates sehr geschadet.

Es trifft sicher zu, dass das wesentliche Motiv der gemäßigt islamistischen AKP-Regierung für die Verfassungsänderung der Wunsch ist, ihrem Spitzenmann Tayyip Erdogan, der nicht nur bei seinen Anhängern, sondern in der türkischen Öffentlichkeit allgemein als eigentlicher Wahlsieger angesehen wird, den Weg ins Amt des Ministerpräsidenten zu ebnen. Doch von der im Parlament verabschiedeten Novellierung würden, anders als Sezer behauptet, natürlich wesentlich mehr Personen als nur Erdogan profitieren.

Hunderte Journalisten, Publizisten und andere öffentliche Personen sind nach dem alten, noch unter Ecevit geänderten Zensurparagrafen 312 wegen abweichender Äußerungen von der offiziellen Lehre verurteilt worden und dürfen seitdem kein politisches Amt mehr anstreben. Insoweit ist die Verfassungsänderung doch wesentlich mehr als nur eine Lex Erdogan.

Somit drängt sich der Verdacht auf, dass in diesem Fall Präsident Sezer das Recht als Vorwand nutzt, um zu verhindern, dass ein Mann, der ihm politisch nicht passt, Ministerpräsident wird. Für die türkische Demokratie wäre es wesentlich besser, Sezer würde Erdogan eine Chance geben, als ihn mit zweifelhaften rechtlichen Argumenten um den Wahlerfolg zu bringen. (DER STANDARD, Printausgabe, 21./22.12.2002)