ALBUM: Was hat das Jahr 2002 der Architektur gebracht?
Wolf D. Prix: Für uns persönlich war es ein sehr gutes Jahr. Wir haben nämlich vier große internationale Wettbewerbe gewonnen: das Museum in Lyon, die BMW Welt in München, das Museum moderner Kunst in Akron und die Kunstschule in Los Angeles. So etwas kommt ja nicht alle Jahre vor. Ganz im Gegenteil.

Und im Allgemeinen?
Drei Ausstellungen des letzten Jahres haben - allerdings nur wenn man sie zusammen sieht - gezeigt, welche Themen in nächster Zeit diskutiert werden. Nämlich die Arbeit am Projekt, der Hintergrund und die Oberfläche. Die Biennale in Venedig im Arsenal hat die Arbeit am Projekt gezeigt; anhand der Ausstellung "trespassing" in der Wiener Secession wurde sichtbar, dass es Architekten gibt, die sich nicht nur nach der Decke der Auftraggeber strecken, sondern den Anspruch erheben, die wirklichen "kommenden Stimmen"" zu sein; und die experimentellen Entwurfsansätze, die man in der Grazer Show "Latente Utopien" sehen kann, beschäftigen sich mit dem Begriff der Oberfläche. Aber nur wenn man alle drei zusammen sieht, kann man die Komplexität der Architekturentwicklung erfassen. Die Leute, die glauben, Lifestylemagazine wie Wallpaper hätten irgend etwas zur Architektur zu sagen, lesen die Architektur auf dem Dieter-Bohlen-Niveau. Diese Zeitschriften sind die Minimalisten im Geiste, weil sie zur Vermittelmäßigung der Architektur beitragen.

Die Frage, die heute allgemein gestellt wird, lautet: Hat gute Architektur überhaupt Zukunft?
Natürlich. Aber man muss aufpassen. Denn in der E-Commerce-Welt werden Personen - natürlich auch in der Architektur - rasch gebraucht und verbraucht. Man hat kaum mehr Zeit, Substanz aufzubauen. Und ich halte die Statements, wie zum Beispiel, dass Architekten keine Weltverbesserer sein dürfen, schlichtweg für dumm. Der Architekt, der die Welt nicht verbessern will, bleibt ein Häuslbauer. Wie man scheitert, wenn man zu früh zu viel Geld verdienen will und daher falsches Bewusstsein entwickelt, kann man ja in der Popmusik-Kultur lesen. Nur die Musiker, die mit Anspruch an ihre Musik herangehen, werden auch nach Jahrzehnten noch gespielt werden. Die anderen sind bloß Shootingstars.

Die heimische Szene scheint da allerdings wacker unterwegs zu sein?
Die Architekturdiskussion hierzulande spielt sich ähnlich wie in Deutschland auf einer immer größer werdenden Provinzebene ab. Die Architekturdiskussion kann man von der internationalen Theoriediskussion nicht mehr trennen. Und hier zerbrechen sich die Leute den Kopf, wer die schönste Holzhütte bauen kann und wer dazu für den Piranesi-Preis vorgeschlagen wird. Totaler Schwachsinn, wenn man sich die Piranesi-Zeichnungen genauer ansieht. Die kommenden Schritte in der Architektur sind also nicht die ökonomischen Holzverbindungen oder wie man zwei Glasplatten besonders geschickt aneinander klebt, sondern die visionären Bauten werden es sein, die den nächsten Takt in der Architektur angeben. Man wird beurteilen müssen, wie weit die Form, die Technik, die Struktur, und das Programm innovativ bewältigt wurden. Das war ohnehin schon immer der Fall. Nur hierzulande scheint man den Blick dafür verloren zu haben, und das Anheben des Mittelmaßes ist das Ziel. Dabei wird allerdings vergessen, worum es in der Architektur stets ging: nämlich um die Innovation. Gerade im österreichischen Umfeld, wo es doch so viele wirklich hochtalentierte ArchitektInnen gibt, vermisse ich eine schärfere Profilierung. Der Beurteilungsmaßstab sollte nicht das Mittelmaß sein, denn Mittelmäßigkeit trägt in sich, dass keine Spitzen entstehen dürfen.

Welche Rolle spielen die Universitäten als Architekturausbildungsstätten?
An unserer Universität, an der Universität für Angewandte Kunst in Wien haben wir mit der Berufung von Zaha Hadid und Greg Lynn einen weiteren Schritt zur Vernetzung von Wissen getan. Und ich bin sehr froh darüber, dass eine Evaluierung der drei Architekturhochschulen in Wien stattfindet. Denn eine Evaluierung sollte man nicht als Prüfung auffassen sondern sie dient zur Feststellung der Stärken und Schwächen der einzelnen Institutionen.

Wie schaut der Terminplan aus?
Die Evaluierung beginnt jetzt, die Resultate sollen im Sommersemester vorliegen. Von den drei Schulen wurde als Vorsitzender der Evaluierungskommission Peter Cook gewählt. Er wird nun sein Team zusammensetzen. Ziel ist es, die Profile der einzelnen Schulen herauszuarbeiten, denn nur so können Synergien erzeugt werden. Auch sollte der Standort Wien als Ausbildungsdrehscheibe geprüft werden, was vor allem jetzt vor der Ostöffnung Sinn macht.

Was können die Schulen überhaupt leisten?
Darauf gibt es eine provokante Antwort: Den Architekten wird es bald nicht mehr geben, weil er sich als Facilitymanager oder als Stimmungsillustrator darstellt. Diese Architekten sägen nicht nur mit der Säge sondern sogar mit der Motorsäge auf dem Ast, auf dem sie sitzen. Um noch ein kurzes Stück Zeit zu gewinnen, müssen diese Architekten Rhetorik- und Präsentationskurse belegen. Doch dann gibt es - wie ich schon immer sage - eine neue Art von Architekten, die sich als Strategen, mit mehr als nur den ökonomischen Problemen des Auftraggebers beschäftigen. Und die Investoren daran erinnern, dass sie nicht nur Verantwortung gegenüber ihrer Geldtasche haben, sondern dass sie mit ihren Bauten, mit denen sie ja die Infrastruktur der Allgemeinheit benutzen, der Allgemeinheit auch verantwortlich sind. Diese Strategiearchitekten sind zwar lästig, doch sie sind die, die den Namen "ArchitektIn" in Zukunft wirklich noch verdienen werden, weil ihr Anspruch über reines Projekterwerben hinaus geht.

Welche Rolle spielt die Politik in der Architektur?
Die Politiker sagen zwar stets, sie stünden hinter uns. Viel besser wäre allerdings, sie würden vor uns Architekten stehen. Denn oft sind es nicht die "bösen" Investoren, die ein exzellentes Projekt zu Fall bringen, sondern es sind die nicht nachvollziehbaren, ängstlichen, geschmacklosen politischen Entscheidungen, die Architektur verhindern.

Und welche Rolle spielen die Medien als Architekturvermittler?
In den letzten Jahren wurde Architektur in den Medien zu Tode gehypt. Sodass der Ruf nach der so genannten Normalität vom medialen Geschäftsinteresse zwar verständlich ist, man muss sich aber klar sein, dass das zu einer Provinzialisierung und Vermittelmäßigung des Anspruchs führt. Führend sind da die deutschen Medien, durchwegs von auf beiden Augen blinden Schreibern besetzt, die die so genannten Stararchitekten jahrelang in den Himmel geschrieben haben und sie nun aus medialem Verkaufsinteresse, weil es ja wieder was anderes geben muss, in Grund und Boden schreiben.

Welche Bauten des vergangenen Jahres sind als wichtig zu bezeichnen?
Von den fertiggestellten Bauten ist Hans Holleins Vulkanmuseum in Frankreich sicher ein ganz wichtiger Bau.

Welche Gebäude des kommenden Jahres werden Aufsehen erregen?
Zaha Hadids Museum in Wolfsburg wird zum Beispiel aufregend, Herzog & de Meurons Stadionbau in München und auch das Kunsthaus in Graz von Peter Cook und Fournier. Abgesehen von unseren kommenden Projekten. Sehr spannend war auch der Wettbewerb um das World Trade Center. Und obwohl ich noch nicht weiß, wer das Projekt wirklich bauen wird; hier gab und gibt es in Amerika erstmals eine Korrektur im Prozedere der Vergabe. Auch wenn der Prozess aller Wahrscheinlichkeit nach mit Investorenarchitektur enden wird: Es sind durch den Wettbewerb unübersehbare Zeichen gesetzt worden, dass Weltklassearchitektur an wichtigen Stellen absolut verlangt wird. Mein Tipp ist, und der wird hoffentlich nicht richtig sein, dass der Lokalmatador SOM vielleicht zusammen mit anderen Großbüros die wesentlichen Kubaturen hinbauen wird; Greg Lynn, Jesse Reiser, Ben van Berkel werden wahrscheinlich die Lobbies gestalten dürfen, mit Sicherheit wird Daniel Libeskind das Memorial entwerfen.

Erstaunlich aber, dass der Wettbewerb von der Bevölkerung New Yorks gefordert wurde, die der zuvor vorgeschlagenen Investorenarchitektur eine heftige Abfuhr erteilt hat.
In dieser Richtung tut sich tatsächlich etwas. Im Turbokapitalismus nennt man das Branding. Aber nicht in jedem Fall. Im Falle von BMW in München zum Beispiel geht es nicht nur darum, ein unverwechselbares Zeichen zu setzen, sondern es geht vor allem darum, Synergien zwischen Architekt und Auftraggeber zu erzeugen, die neue Art von Lösungen produzieren. Nur wenn es diese Art von Synergien gibt, kann Architektur entstehen. Und nur flotte Sprüche auf eine Kiste aufzuschreiben, macht diese noch lange nicht unverwechselbar.

Gibt es ähnliche Tendenzen bereits in Österreich?
Wir nehmen immer wieder an großen internationalen Wettbewerben teil, bei denen sich junge Architekten aus aller Welt hervorragend schlagen. Wo aber, verdammt noch einmal, ist unser Nachwuchs? Das ist eine Aufforderung an die Jungen. Entwerfen heißt nämlich nicht Verdienen, sondern Nachdenken. Denn die neue Architektur ist ein Hund, und die Architekten sind daher Hundezüchter. Ich bin immer ganz geplättet, wenn ich die Computeranimationen der jungen internationalen Hundezüchter sehe. Und ich gebe zu Bedenken, dass gerade der Computer künftig noch eine größere Rolle spielen wird als bisher. Ob das so gut ist oder schlecht, weiß ich noch nicht. Auf jeden Fall werden wir Architekten dieses spezifische Gebiet ausloten müssen. Das könnte zum Beispiel ein Anspruch der neuen jungen österreichischen Architekten sein.

Ein architektonisches Fazit?
Nicht der schnell vergängliche E-Commerce, auch nicht der schon beendete Denkminimalismus, sondern die Auseinandersetzung mit den Hintergründen, den Programmen und den neuen Technologien ist die Zukunft. Man wird sich daher auch in Österreich ganz genau ansehen müssen, wie innovativ die neuen Projekte entwickelt werden. Doch das kann man nicht beschreiben, bevor die Gedanken auch wirklich zur Realität geworden sind, also gebaut sind. Man wird in die fertigen Gebäude gehen müssen, um sich ein Urteil bilden zu können und sich nicht mehr auf medial gehypte Renderings verlassen dürfen. Und das visionär gebaute und nicht nur das gedachte ist der nächste Schritt in die Zukunft. []

architektur@derStandard.at

Jubilar Wolf Prix

Wolf Prix gründete in den 60er- Jahren gemeinsam mit Helmut Swiczinsky die Architekturgruppe Coop Himmelblau, die später aufgrund heftigen Auftragseingangs zu Coop Himmelb(l)au umgenannt wurde. Die Himmelblauen zählen heute international zu den gefragtesten Baukünstlern und gelten neben Zaha Hadid, Frank Gehry und anderen zu den Wegbereitern des Dekonstruktivismus.
Wolf Prix feierte am 13. Dezember seinen 60. Geburtstag. Neben vielen anderen Gratulanten meldete sich auch der amerikanische Architekturaltmeister Philip Johnson mit einem aufmunternden "weiter so" beim Jubilar. uwo []