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Bernard-Henri Lévy

Foto: Reuters/Prammer

Das zwanzigste Jahrhundert hat es der Philosophie nicht leicht gemacht. "In keiner Epoche lastete die geschichtliche Erfahrung schwerer auf den Ideen", schrieb Emmanuel Levinas in einem Text über die schwierige Freiheit. Bernard-Henri Lévy zitiert diesen Satz zwischendurch in seinem vielgepriesenen Buch über Jean-Paul Sartre. Er könnte jedoch auch dessen Leitmotiv sein. Denn das Jahrhundert - Le Siècle de Sartre, so der französische Originaltitel - hat sich am Ende gegen die Ideen dieses widersprüchlichen Denkers gestellt, von dem auch Lévy nicht behauptet, dass er ein großer Philosoph war, dessen intellektuelle Biographie er aber so gründlich in ihre Bestandteile zerlegt, dass er am Ende einen Trumpf ziehen muss.

Sartre lebte von 1905 bis 1980, er kam aus einer Zeit, in der die Philosophie noch eine Chance darin sah, "zu den Sachen" zurückzukehren. Er las Husserl und Heidegger, wobei er schon hier viele Dinge "in Form indirekter Lektüre" aufnahm, also einen flüchtigen Eindruck dem gründlichen Studium vorzog. Sein Hauptwerk Das Sein und das Nichts wurde zum zentralen Dokument des Existenzialismus. Hier setzt Lévy mit seiner Widerlegung von Vorurteilen ein: Für ihn ist die philosophische Hauptströmung der frühen Nachkriegszeit kein Humanismus, wie es in einem berühmten Vortrag von Sartre hieß, sondern im Gegenteil ein "Antihumanismus". Die ganze Kritik am Begriff des Menschen, die das französische Denken nach 1945 geleistet hat, sieht Lévy bereits bei Sartre bedacht und vor allem gelebt. Denn Sartre starb als Subjekt viele Tode, er widersprach sich häufig, konnte sich an die eigenen Bücher schlecht erinnern, und er äußerte sich zu so vielen Dingen, dass er als "Großschriftsteller" unzureichend beschrieben ist.

Nicht von ungefähr beginnt Lévy mit einem Kapitel über Sartres Ruhm und über seine Position in der Erbfolge des französischen Geisteslebens: Er übernahm von André Gide das "Staffelholz", und nun übernimmt Lévy es - unausgesprochen - von Sartre, weil niemand sonst es haben wollte. Es ist trotz allem eine überraschende Parteinahme von Bernard-Henri Lévy, der aus der "neuen Philosophie" kommt, "deren wahres Schlachtroß, vielleicht deren einziger Programmpunkt die Unterstützung der Dissidenten war". Sartre hingegen hat sich auf die Seite des Stalinismus geschlagen, er verhält sich schäbig gegenüber Solschenizyn, und wittert Agenten des CIA, wo Kritiker des Totalitarismus auftreten.

Es ist dieser "Schiffbruch", dieser Rückfall in eine hegelianische Geschichtsphilosophie, der Sartre in der zweiten Hälfte seines öffentlichen Lebens allmählich indiskutabel werden ließ. Nach 1955 ging Sartre nicht so sehr einer philosophischen als einer politischen Tätigkeit nach, äußerte Foucault in einem Gespräch. Dieses höfliche, in Wahrheit vernichtende Urteil kann auch Bernard-Henri Lévy nicht widerlegen. Er will aber immerhin den frühen, den antihumanistischen und antifaschistischen Sartre rehabilitieren, ohne deswegen gleich eine Entwicklungs- oder Verfallsgeschichte im strengen Sinn zu entwerfen.

Nein, auch Sartre ist kein Subjekt. "Das Bewußtsein, so wie Sartre es philosophisch konzipiert hatte, war zu fragil, es bot sich geradezu dazu an, geknickt, gebrochen zu werden. Seine Definition des Subjekts - Instabilität, Eigenschaftslosigkeit, ein fast flüssiger Zustand - machte die Subjektwerdung zwangsläufig zum störanfälligen, mithin prekären und unsicheren (kostbaren, aber unsicheren) Abenteuer." Es ist der klassische Entwicklungsroman, der sich in Lévys Buch verflüssigt zu einer Darstellung beinahe chemischer Reaktionsweisen zwischen Zuständen des Denkens. Sartre ist eine besonders starke Substanz, so könnte man das Buch deuten, weil er keine Eigenschaften hat als die des Jahrhunderts. "Am Ursprung des Sartreschen Totalitarismus steht dieser letzte Zug: der Haß auf die Literatur und auf sich." Hier ist der Moment, da Lévy seinen Trumpf zieht, indem er eine Geschichte von dem blinden Philosophen erzählt. Ein junger Sekretär berichtet ihm von einem anderen Denken, dem des Juden Emmanuel Levinas, der den Messianismus nicht revolutionär dachte, weil der Messias immer schon da ist. Man muss ihn nur sehen können. (Bert Rebhandl/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 21./22.12. 2002)