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Die Krippe zu Bethlehem, 2002 Jahre vor der "anonymen Geburt" im roten Wien: Man stelle sich vor, Maria hätte sich in ihrer Not an Stadträtin Pittermann gewandt ...

Foto: APA/ Kolorit

Maria aus Nazareth hatte es bekanntlich schwer mit ihrer Schwangerschaft: Der Kindesvater war einer weltlichen Beurteilung entzogen und Josef, Marias Verlobter, musste erst von einem Erzengel überzeugt werden, dass er als "Nährvater" des göttlichen Jesus seiner Zukünftigen zur Seite stehen sollte. Hätte Maria 2000 Jahre später in Wien geboren, wäre ihr wohl der Rat der Frau Stadträtin Pittermann zuteil geworden, den sie mit Anzeigen in Schulen, U-Bahnen und Jugendzentren gibt: "Anna ist ein Findelkind. Sie ist gesund und ohne Risiko zur Welt gekommen."

So wirbt die Stadträtin bei jungen Mädchen für eine problemfreie und vor allem folgenlose Befreiung aus einem persönlichen Dilemma, an dessen Ende das Kind nach der anonymen Geburt in einem Wiener Spital zur Adoption freigegeben wird und die Mutter unerkannt nach Hause gehen kann. Und alle klatschen Beifall: die christlichen Kirchen, weil ihnen das Leben ein hohes und heiliges Gut ist und ihnen die Fantasie vom gefallenen Mädchen in höchster Not so nahe liegt. Die Feministinnen, weil sie Frauen in Not nicht hinter einer Mülltonne gebären sehen wollen und weil keiner Frau eine Mutterschaft aufgezwungen werden darf, die diese nicht ertragen kann.

Nur lautere Motive?

All diese Motive sind anerkennenswert und berücksichtigungswürdig, in manchen Fällen werden sie auch die Realsituation beschreiben. Daher wurde in Wien die anonyme Geburt ohne nennenswerte öffentliche Debatte, basierend auf einem Erlass des Innenministeriums vom 27. Juli 2002, eingeführt. Nicht bedacht wurde, dass möglicherweise die Gefahr, dass Frauen ihr Neugeborenes töten, damit nicht geringer geworden ist: Die Betreffenden werden von "anonymer Geburt" und "Babynest" kaum erreicht, weil sie die bevorstehende Niederkunft so lange aus ihrem Bewusstsein ausblenden, bis es für rationale Planung zu spät ist und ein psychischer Ausnahmezustand in der Kindstötung mündet.

Nicht berücksichtigt wurde auch, dass nicht alle Motive, anonym zu gebären, unterstützt werden sollten. Europaweit warnen die Fachleute bereits vor den Folgen der guten Tat: Die Herkunft des Kindes wird möglicherweise nur deshalb verschleiert, weil dahinter Missbrauch, Vergewaltigung, Inzest oder sexuelle Ausbeutung stehen. (Ablehnung äußern u.a. die Deutsche Gesellschaft für Geburtshilfe, Adoptionsorganisationen und der Deutsche Kinderschutzbund.)

Nicht beachtet wird außerdem, dass mit diesem Angebot möglicherweise eine neue Zielgruppe entsteht, nämlich diejenigen Frauen, die sich hätten durchringen können, eine reguläre Adoption durchzuführen, nun aber durch die "Aufklärungskampagne" der Stadträtin in die Anonymität abgeworben werden. Und wie lässt sich eigentlich verhindern, dass der begehrliche Adoptionsmarkt in der anonymen Geburt seine nützliche Entsprechung findet? - Die ministerielle Verordnung sieht daher vor, dass die Notsituation gegenüber dem Jugendamt in einem vertraulichen Gespräch glaubhaft gemacht werden muss und dass diese Motive als ausreichend beurteilt werden müssen.

Frau Pittermann hält sich mit derlei Vorsichtsmaßnahmen nicht weiter auf: In einer Dienstanweisung des Wiener Krankenanstaltenverbundes heißt es: "Nach Ansicht der MA 15 genügt es, für die Einstufung als Notsituation, dass die Frau in der Krankenanstalt den Wunsch nach anonymer Geburt äußert. Dadurch bringt sie unmissverständlich zum Ausdruck, dass sie, aus welchen Gründen immer, nicht in der Lage ist, nach der Geburt ihre Aufgabe als Mutter weiter auszuüben."

Damit nimmt die Gesundheitsstadträtin in Kauf, dass neben Frauen in Not auch Schwangere ins Spital kommen, die möglicherweise von Angehörigen, Partnern, Zuhältern gezwungen wurden, anonym zu entbinden, um keine Spur zur komplexen Konfliktlage und zu anderen Mitbeteiligten zu legen.

Das Spitalspersonal wird mit dieser Anweisung geradezu zur Sorglosigkeit aufgefordert, denn es wird nicht verdeutlicht, dass Beratung unabdingbar ist und auch für Frauen in Not in nahezu allen Fällen eine geordnete Adoption, unter höchster Vertraulichkeit gegenüber dem persönlichen Umfeld der Mutter, eine zumutbare Lösung wäre.

Wissen um Herkunft . . .

Warum ist es wichtig, die Herkunft des Kindes nicht in das unaufhellbare Dunkel zu tauchen, das zwangsläufig entsteht, wenn die Mutter unerkannt das Spital verlässt? Das Recht auf das Wissen um die eigene Herkunft und Identität ist in unserer Rechtsordnung ein hohes Gut, das in der UN-Kinderrechte-Konvention verankert ist. Eine Verletzung dieses Rechtes braucht mehr Begründung als "welche Gründe auch immer", wie in der Wiener Regelung. Menschen, denen das Wissen um die eigene Herkunft für immer verwehrt ist, leiden oft ein Leben lang an dieser unbekannten Koordinate ihrer Existenz.

Frankreich hat 1941 die anonyme Geburt als Möglichkeit, Französinnen vor der Schande eines Besatzerkindes zu bewahren, eingeführt. Mittlerweile gibt es 400.000 Menschen, die als Generation X ohne Herkunft geboren wurden. Seit diese Menschen öffentlich und lautstark protestieren und eine Klage einer anonym Geborenen gegen Frankreich eingebracht wurde, hat sich das Blatt gewendet. Frankreich hat die anonyme Geburt mit der Einrichtung eines nationalen Vertrauensrates daher jüngst abgeschafft.

. . . ist ein hohes Gut

Bei diesem Rat werden, auch wenn eine Mutter für ihr Lebensumfeld unerkannt bleiben will, alle wichtigen Angaben zur Identität des Kindes aufbewahrt und auf Verlangen und nach genauen Regeln den Betroffenen offen gelegt. Warum zieht Österreich ein derartiges Sicherheitsnetz zur Wahrung der Identitätsrechte der eigentlich Betroffenen, der Kinder, nicht ein? Deutschland scheut sich seit mehr als einem Jahr, ein Gesetz zu erlassen, duldet aber die boomenden Angebote privater Organisationen für anonyme Geburten und diskutiert wenigstens in Politik und Fachwelt über eine ordentliche Regelung. Österreich diskutiert nicht und Wien richtet sich in fragwürdigen Scheinlösungen ein.

Maria aus Nazareth hatte es nicht leicht mit Jesus und vor allem mit seinem göttlichen Vater. Bei den Befürworterinnen der anonymen Geburt wäre sie sicherlich auf Verständnis gestoßen, wenn sie die Herkunft Jesu vor der Welt verborgen hätte. Unsere abendländische Geschichte aber hätte einen gänzlich anderen Verlauf genommen!

(DER STANDARD, Printausgabe, 27.12.2002)