Die an Heiligabend von Peking veranlasste vorzeitige Haftbefreiung und Abschiebung des prominenten chinesischen Dissidenten Xu Wenli in die USA wird von regimekritischen Intellektuellen in Peking als Anzeichen für eine mögliche politische Liberalisierung gewertet. "Das ist nicht nur ein Weihnachtsgeschenk für die USA. Das ist auch ein Versuchsballon für einen Neuanfang nach innen", kommentierte ein gewöhnlich gut informierter chinesischer Beobachter.

Die Entscheidung zur Entlassung Xus, des Gründervaters der verbotenen Demokratischen Partei Chinas, sei in Chinas Führung umstritten gewesen. Hohe Parteifunktionäre hätten sich gegen eine Freilassung zum jetzigen Zeitpunkt ausgesprochen, um keinen Präzedenzfall zu schaffen. Der neue Ständige Ausschuss des Politbüros, der seit seiner Neuwahl vor einem Monat unter Führung von Parteichef Hu Jintao stehe, habe die Entscheidung für die Ausreise getroffen. Mit Xu werde zum ersten Mal einer der nach 1999 verhafteten und verurteilten rund 50 Parteigründer und Aktivisten aus den Reihen der verbotenen Demokratischen Partei entlassen. Seine Abschiebung ließe sich auch nicht mit dem sonst üblichen "zynischen Tauschhandel" erklären: Bisher hatte die Pekinger Führung unmittelbar vor USA-Besuchen oder vor wichtigen Ereignissen wie der Entscheidung zur Vergabe der Olympiade ausgewählte politische Häftlinge zur Beeinflussung der US-Öffentlichkeit aus der Haft entlassen. Die Freilassung Xu Wenlis komme aber erst im Nachhinein auf den Besuch von Staatspräsident Jiang Zemin im Oktober bei George W. Bush zustande.

Vier Aktivisten frei

Chinas Behörden entließen am 20. Dezember auch zwei der vier Arbeiteraktivisten in Nordostchinas Stadt Liaoyang, die nach der Organisation von Arbeiterprotesten im März festgenommen worden waren. Der bekannt gewordene Arbeiterführer Yao Fuxin blieb weiter in Haft.

Der 59-jährige Veteran der Demokratiebewegung, Xu Wenli, konnte am Dienstag sein 80 Kilometer von Peking entferntes Gefängnis verlassen. Xu, der für seine gewaltlosen radikaldemokratischen Forderungen schon einmal, von 1981 bis 1993, zwölf Jahre lang in Haft gehalten wurde, war von einem Pekinger Gericht im Dezember 1998 im Schnellverfahren zu einer zweiten Strafzeit von 13 Jahren abgeurteilt worden. Das Gericht wertete seine in aller Öffentlichkeit vollzogene Ausrufung einer oppositionellen Demokratischen Partei als staatsgefährdenden Umsturzversuch der Einparteienherrschaft Chinas.

Neben Xu wurden weitere Parteigründer wie Qin Yongmin in Wuhan und Wang Xoucai in Hangzhou auch im Dezember 1998 zu jeweils mehr als zehnjährigen Haftstrafen verurteilt. Für eine Freilassung von Xu Wenli, der sich 1999 in der Haft an der gefährlichen Leberkrankheit Hepatitis B infizierte, setzte sich die internationale Öffentlichkeit immer wieder ein. Sein Name stand an erster Stelle der jährlich vom UN-Menschenrechtsbeauftragten der Pekinger Führung überreichten Petitionslisten. Xus Freilassung gilt auch als Verdienst der Gefangenenstiftung Duihua (Dialog) des US-Geschäftsmannes John Kamm. Er wird als "inoffizieller Vermittler" von Pekings Justizbehörden anerkannt. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.12.2002)