Foto: Cartier

Ling Yang, der Dichter, sitzt den ganzen Tag in seiner Hütte unter den Weiden am Ufer des Flusses und träumt von der Dame Moy. Frühling und die Schwalben sind von den ewigen Inseln der Myrrhe und des Amaranth zurückgekehrt, die weiter im unergründeten Süden liegen, als die Segel reichen; die Silberknospen der Weide erblühen in Gold."

So lebte sich's im alten China. Beziehungsweise, so wurde es dargestellt. Unter den Weiden sitzend, ab und zu treibt vielleicht eine Kirschblüte den Fluss hinab, und man schreibt der Dame des Herzens schmachtende Gedichte und zupft ein gelegentlich ein wenig melancholisch an der Leier. Solche Szenen wurden auf seidene Tapeten gemalt, fanden sich auf Frisiertischchen und auf Briefschachteln.

Diese Szene allerdings wurde nicht nicht gemalt, sondern geschrieben. Der Schriftsteller Clark Ashton Smith (1893-1961) malte sie in Buchstaben unter dem Titel "Chinoiserie" aufs Papier und erläuterte damit präzise den Titel für das gesamte Genre: die Faszination des Fernen Ostens, seiner Idyllen, seiner zarten Formen, seiner (scheinbar und aus der großen Entfernung auf jeden Fall) unangestrengt wirkenden Rituale.

Die fernöstlichen Szenen vom Lande waren allerdings zumeist europäischen Künstlern zu verdanken. Die Ära des Rokoko liebte den Prunk mit Exotik-Faktor besonders, die Nachfrage nach einschlägigen Import-Gütern konnte bald nicht mehr befriedigt werden. Daher schritten Kunsthandwerker vor allem in Frankreich und Holland zu Werke und versorgten die Salons und Boudoirs von Budapest bis Paris mit "chinoisen" Möbeln, Objekten und Textilien. Seither ist die europäische Rezeption der chinesischen Ästhetik (wobei "chinesisch" großzügig gehandhabt wurde und auch etwa Indien einschloss) ein immer wiederkehrendes Motiv im Geschichtsbuch der Moden.

Das neueste Kapitel schlägt Cartier auf. "Baiser du Dragon" heißt die jüngste Schmuck-Kollektion aus der Pariser Edelschmiede, die ein wahres Zitatenfeuerwerk der Geschichte europäischer Sinophilie ist. Schwarze Onyxstifte, kleine Diamanten und Rubinperlen sind die Grundbausteine der Kollektion. Für die Ringe kommt auch Jade in den ungewöhnlichen Farben Lila und Schwarz zum Einsatz. Einmal sind die Grundbausteine zu einer Halskette gefädelt, einmal sind sie zu einem Ring mit aufgesetzten Miniatur-Pagodendach zusammengestellt.

In einer weiteren Variante tritt der luxuriöse Bausatz als Ohrgehänge auf, die eigentlich voluminös, aber durch die Zartheit und Feingliedrigkeit fragile Schönheiten sind. Die zarten Gebilde sind eher eine Referenz auf Art déco als auf Suzie Wong. Damen wie Coco Chanel würde "Baiser du Dragon" ausgezeichnet stehen. Die Grande Dame der Eleganz des vergangenen Jahrhunderts hatte übrigens eine ausgeprägte Vorliebe für Chinoiserien. Der chinesische Paravent in ihrem Apartement in der Pariser Rue Cambon ist Teil der Chanel-Stilikonographie. Sie hätte vermutlich den idealen modischen Rahmen für die "Drachenküsse" gefunden: schwarz, schwarz und noch mal schwarz, edle Stoffe, fließende Linien unterbrochen von knapp sitzenden Jäckchen.

Bei den meisten Ringen ist es dann vorbei mit der Fragilität. Imperiale Wucht ist hier das Gebot. Die wie von goldenen oder weißgoldenen stilisierten Krallen gehaltene Jade sieht aus, als hätte sie Bernardo Bertoluccis "Letztem Kaiser" als Siegelring gedient. Die eigentlichen Siegelringe der Kollektion sind nicht mit Jade, sondern mit viereckigem Quarz-Tigerauge oder Quarz-Falkenauge bestückt.

"Baiser du Dragon" soll nicht nur schmücken, sondern auch noch Glück bringen. An einige der Anhänger sind so genannte "Wishknots" (kurze Seidenbänder) geknüpft. Diese Bänder werden der Legende nach von einem auf dem Mond lebenden Greis geknüpft, der durch die Verknüpfung Kinder zu künftigen Ehepaaren bestimmt. Ein kosmisches Glückskeks gewissermaßen.

Cartier darf als Vorreiter der nächsten Sinophilie-Welle gelten. Denn ein Blick auf die Mode-Sommerkollektionen 2003 fällt auf seidene Gewänder mit Kirschblütenmotiven, auf kaiserliches Gelb, auf das Rot des Drachen, auf Suzie-Wong-Kleidchen und Seidenkimonos. Tonangeber Tom Ford widmete die nächste Gucci-Kollektion dem Thema China. (DER STANDARD/rondo/B.L./27/12/02)