Wer ein auch nur halbwegs entwickeltes Sensorium für Stimmungen hat, spürt seit einiger Zeit eine Eintrübung der kollektiven Gemütslage in Deutschland, deren Heftigkeit selbst für dieses ins Depressive verliebte Land außergewöhnlich ist. Das Volk scheint den Glauben daran zu verlieren, dass es "irgendwie" schon weitergehe. Und das wohl nicht zu Unrecht:

Dieser Staat treibt allem Anschein nach schnurstracks - und beileibe nicht nur in finanzpolitischer Hinsicht - in den offenen Bankrott. Die Kredibilität, die die Bürger der politischen Klasse gleichsam als Vorschuss gewähren - und gewähren müssen, soll das System funktionieren -, ist nahezu aufgebraucht.

Realitätsverlust

Was schwindet, ist das elementare Vertrauen in die Rest-rationalität der Institutionen und politischen Entscheidungsprozesse, die der auch noch stillschweigend voraussetzt, der bei Bier und geselliger Runde über "die da oben" krachend vom Leder zieht.

Was sich derzeit vor aller Augen abspielt, ist ein Drama von wahrhaft Shakespearescher Dimension unter den Bedingungen der repräsentativen Demokratie: der sich abzeichnende Kollaps eines Staates, der von denen, die für seine Hege verantwortlich zeichnen, platterdings geleugnet wird.

Das sei mit Sozialdemokraten nicht zu machen: Jener in des eigentlichen Wortsinns historische Satz, mit dem ein Franz Müntefering, das singuläre Unbewusste der SPD, das minimal-vernünftige Ansinnen auf Aufschub der nächste Rentenerhöhung abschmetterte, offenbart in seiner argumentativen Dürftigkeit den ins schier Wahnhafte ausufernden Realitätsverlust dieser Partei.

Doch dieser Partei nicht allein: Nicht die Sozialdemokratie, der Sozialdemokratismus hat abgewirtschaftet. Jener unterschwellige Contrat Asocial der großen Volksparteien, die Politik als Verteilung von Wohltaten für die jeweils aktuell präsenten Generationskohorten auf Kosten der kommenden definieren. Sie aber sind just in dem Moment mit ihrem Latein am Ende, wo es nicht mehr um die freizügige Zuweisung von Pfründen, sondern, ganz im Sinne des Rawlsschen Gerechtigkeitsparadigmas, um fairen Ausgleich kommender Lasten zu tun wäre.

Was sich wie Mehltau über dieses Land legt und noch die letzten Schwundspuren von Vitalität zu ersticken droht, ist die klamme Ahnung, dass das politische Führungspersonal keinen Ausweg aus der Malaise mehr weiß - und auch das nicht weiß.

Verräterische Miene ...

Wer ein auch nur halbwegs entwickeltes Sensorium für gestischen, mimischen Ausdruck hat, erkennt diese kollektive Gemengelage aus Tristesse und Resignation, inkarniert in der Gestalt eines Einzelnen. Das Trauerspiel des Staates wird zum Königsdrama: Der Körper der Macht zerfällt stellvertretend im Körper des Mächtigen. Als wäre es das fleischgewordene Menetekel, treten Schröders Körpersprache, zumal seine Gesichtszüge in sichtbaren Konflikt zur offiziellen Verlautbarungsrhetorik.

Was zuerst wie eine zu fällige Schwäche anmutete, seine zum rhetorischen Debakel gewordene Regierungserklärung, war rückblickend nur die Initialzündung einer leibhaftigen Wandlung der politischen Physiognomie des Kanzlers. Sein Mienenspiel wirkt seitdem kraftlos und wächsern, aschfahl die Gesichtsfarbe, grau und auch ein wenig kränkelnd.

Die Haltung hat längst etwas Marionettenhaftes, Ungelenkes; und der Gang, einstmals ausschreitend und von gewisser Dynamik, ist ein wenig tapsig geworden, hat etwas von einem schwerfälligen Stapfen. Jeder Schritt wirkt, als habe die Schwerkraft zugenommen.

Nicht das Alter steht einem hier ins Gesicht geschrieben, sondern das Übellaunige, die Rat- und Freudlosigkeit.

Was den Redner Schröder einmal auszeichnete, der nonchalante Plauderton, die Entspanntheit, die großzügige Geste, die Herzenslust, mit der er sein Publikum behaglich umfing, ist einer Erschlaffung gewichen, die so anziehend wirkt wie ein Hautausschlag. Die "Große Müdigkeit", von der Nietzsche einst sprach, hier wird sie Ereignis. Die Augen des "Lebemanns" Schröder sind so leblos und stumpf wie der Klang seiner Worte dünn und resonanzlos. Man vergleiche Bilder früherer Auftritte Schröders mit heutigen, um das ganze Ausmaß dieser erstaunlichen Verwandlung zu ermessen.

Dass ein anderer Hofschranze unterdes tut, was er ansonsten nie tut, nämlich lachen coram publico, zeigt, dass man hinter der Bühne bereits fröhlich die Messer wetzt. Wolfgang Clements "Giggling" vor laufender Kamera lässt sich im Einmaleins politischer Tiefenhermeneutik mühelos deuten als infantile Jubelreaktion über die bevorstehende Bescherung.

... zum quälenden Spiel

Dabei ist der Niedergang des Hauses Schröder nur der ins Negative gewendete letzte Erfolg seines politischen Stils. Der politischen Ich-AG Gerhard Schröder gerät zur hochverzinsten Hypothek, was sie zuvor als Kredit einstrich. Seine cholerische Invektive - das "Machtwort", wie es heißt, das doch nur deren Korrosion dokumentiert -, dass nicht die SPD, sondern er die Wahl gewonnen habe, wird von den Adlati, die die Blaupausen für den kalten, schnellen Putsch längst in den Schubladen haben, nur allzu wörtlich genommen.

Schröder hat die Wahl gewonnen, und er wird es sein, der die Macht verliert - nicht die SPD. So das Kalkül.

Das ist beste Ränke, und schon Shakespeare faszinierte damit sein Publikum. Das Problem ist nur: Sie geht - nicht nur bei Shakespeare - selten auf. Und wie bei Shakespeare ist die Korrosion von Macht ein langsamer, ein quälend langsamer Prozess. Was bedeutet, dass sich das Rührstück von Akt zu Akt noch ein Weilchen7 hinschleppen dürfte.

Doch Geduld: Am Schluss endlich stürzt der König und reißt alles und alle in den Abgrund. Und das heißt hier: nicht nur die Sozialdemokraten und die mit ihnen in selbst verschuldeter Unmüdigkeit verketteten Grünen. Was fällt zumal ist der Glaube des Wahlvolks an die Klugheit der politischen Personalie - jedweder Couleur.(DER STANDARD, Printausgabe, 28./29.12.2002)