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Anti-Amerikanist" Gauß: "Europa wird sein Anti-Europa, das es braucht, um sich selbst entwerfen, deuten, behaupten zu können, erstmals im Westen finden ..."

Foto: APA/Pfarrhofer

Was haben die USA und die Türkei gemein? Dass sie mit ihrer harten Justiz- und schwachen Sozialpolitik zum gegenwärtigen Zeitpunkt beide nicht Mitglied der Europäischen Union werden könnten. Und worin gleichen einander Griechenland und Frankreich? Dass sie in ihrer Minderheitenpolitik auch weiterhin jene Kriterien nicht erfüllen, die den osteuropäischen Ländern, die der Union beitreten möchten, zu Recht abverlangt werden. Und Italien? Ach, würde die Union jene Maßstäbe, die sie an die Beitrittskandidaten anlegt, auch auf ihre Gründungsmitglieder anwenden, gegen Italien, das Exempel für die Selbstzerstörung einer bürgerlichen Gesellschaft, müsste zweifellos ein Verfahren eröffnet werden.

Doch hat die Union aus den Sanktionen, die sie einst gegen Österreich erließ und von denen sie nur mittels eines dubiosen Tricks wieder ablassen konnte, offenbar das Falsche gelernt: nämlich die Finger von derlei überhaupt zu lassen, anstatt ein geregeltes Verfahren zu entwickeln, mit dem Länder, die gegen grundlegende Regeln und Vereinbarungen der Union verstoßen, auf ebendiese zu verpflichten wären.

Vorreiter Österreich?

Freilich, "rechtspopulistische Parteien mit radikalen Elementen", wie die drei Weisen seinerzeit die FPÖ charakterisierten, sind mittlerweile auch anderswo in die Regierung gelangt. Viel schlimmer aber ist, dass die Forderungen, die solche radikalen Parteien zu erheben pflegen, allenthalben von moderaten Parteien aufgegriffen und inzwischen auch von sozialdemokratischen Regierungen umgesetzt werden.

So wurde auf dem EU-Gipfel von Sevilla im Frühsommer nahezu alles beschlossen, was die Haider, Bossi, Rasmussen, Fortuyn, Kjaersgaard ihm vorgegeben haben. Wenn die rechtspopulistischen Parteien jedoch bei Wahlen gar nicht siegen müssen, um das, was sie verlangen, zu erhalten, dann ist auch kein Jubel angebracht, wenn sie, wie in Österreich, geschwächt aus Wahlen hervorgehen.

Vielleicht ist Österreich ja wie bei der Regierungsbeteiligung der FPÖ auch darin wieder den anderen Ländern voraus: dass den rechten Populisten die Wähler davonlaufen, weil deren Anliegen mittlerweile wirkungsvoller von traditionellen Parteien verfochten werden. Wie sagte Ewald Stadler? "Wenn sich Innenminister Strasser weiter so aufführt, kann er bald um die Ehrenmitgliedschaft in der FPÖ ansuchen."

Der brüske Satz ist von doppelbödigem Witz, denn Stadler ärgert sich nicht nur, dass der christlich-soziale Minister die Politik der Freiheitlichen verficht und diesen so die Wähler stiehlt, sondern macht diese Politik zugleich mit dem Wort "aufführen" kenntlich. Es ist also nicht so, dass sie nicht wüssten, was sie tun.

Offenbar waren die autoritären Beschlüsse von Sevilla jedoch notwendig, um die Osterweiterung der Union, wie sie Ende des Jahres in Kopenhagen beschlossen wurde, durchsetzen zu können. Die Osterweiterung ist gewiss die folgenreichste politische Veränderung Europas nach dem Zweiten Weltkrieg, wobei noch nicht entschieden ist, welche Folgen das sein werden. Denn die Vergrößerung der Union ist eine schlichte ökonomische Notwendigkeit, birgt gefährliche politische und soziale Konflikte und bietet viele gesellschaftliche und kulturelle Chancen.

Um sie würdigen zu können, muss man wissen, dass Europa die Eigenheit besitzt, stets größer oder kleiner zu sein als der gleichnamige Kontinent, von dem die Geografen sprechen. Mitunter bringt Europa sogar das Kunststück zuwege, kleiner und größer zugleich zu sein.

Wenn etwa von den "europäischen Werten" gesprochen wird, dann dehnt sich Europa ins Unermessliche, denn gemeint sind universale Werte wie Demokratie und Menschenrechte. Sobald universale Werte aber als spezifisch europäische firmieren, ist Europa überall, wo die Demokratie gesichert ist und die Menschenrechte respektiert werden. Während Europa sich mit den europäischen Werten zur Weltmacht erklärte, hatte es umgekehrt bisher darauf verzichtet, seinen Wirkungsbereich auch nur auf alle Regionen des eigenen Kontinents zu erstrecken. Seit Jahrhunderten schneidet mitten durch Europa eine Grenze, die bald ein paar Hundert Kilometer weiter ostwärts verlief, bald zurückverlegt wurde, aber immer die Grenze zweier Welten blieb.

Jenseits der Grenze, wo Europa kein Europa mehr war, lag der Osten; wenn man bedenkt, dass die geografische Mitte unseres Erdteils vom Französischen Geografischen Institut ein für allemal dort festgelegt wurde, wo sich 25 Grad und 19 Minuten Länge mit 54 Grad und 54 Minuten Breite schneiden, also bei dem litauischen Städtchen Moletai, dann wird klar, dass der Osten mitunter sehr weit in den Westen ragte. Für diesen Osten hat es in der Geschichte viele Namen gegeben: Asien, Islam, Osmanisches Reich, Balkan, Bolschewismus.

Wie die Grenze nicht starr an derselben Linie verlief, hat sich auch stetig verändert, was den Unterschied zwischen der Kultur diesseits und jenseits von ihr ausmacht. Statt wie heute auf den Besitz der Demokratie war Europa beispielsweise lange auf den der Rechtgläubigkeit stolz; statt Länder aus Europa auszustoßen, weil sie der freien Marktwirtschaft nicht den gebührenden Platz einräumen, wurden sie früher dafür gebannt, dass dort die Un- oder Falschgläubigen lebten.

Europa brauchte diese innere Grenze, weil es kein Bewusstsein seiner selbst erlangen kann, ohne ein Gegenbild zu haben, ein Anti-Europa, das Reich der Heiden, Ketzer, Barbaren. Damit der Westen seiner Werte inne wird und weiß, was ihn zusammenhält, braucht er den Osten, von dem er sich unterscheidet. Mit der Osterweiterung der Union verschwindet dieses andere, dunkle Europa, der Osten wird Teil des Westens, und Europa vergrößert sich um sein altes Gegen-Bild.

Emanzipation . . .

Wer wird künftig jenes Anti-Europa abgeben, das Europa braucht, um sich selbst entwerfen, deuten, behaupten zu können? Als Erstes scheint sich dafür die Türkei anzubieten oder, fälschlich mit der Türkei identifiziert, der Islam.

Nun sprechen gegen die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union zwar so viele Gründe wie dafür, aber der Grund, dass Europa auf dem Christentum gegründet sei, ist nicht darunter. Denn erstens war Europa, dem das Wissen der Antike übrigens durch arabische Gelehrte übergeben wurde, niemals ein rein christlicher Kontinent oder vielmehr: Er wurde es zwischenzeitlich immer erst durch Vertreibung und Verfolgung. Und zweitens ist das Christentum unter anderem ja gerade dafür zu schätzen, dass in ihm der Traum von der Einheit der Menschheit selbst, nicht nur ihres privilegierten europäischen Teils, lebendig geblieben ist.

. . . als Wechselprozess

Nein, Europa wird sein Gegen-Europa anderswo suchen und erstmals im Westen finden. Das liegt in der Logik einer langen Entwicklung, die mit der Besiedelung Amerikas durch Europäer, die ihren Traum von Freiheit und Wohlstand nicht in Europa verwirklichen konnten, begann; eine Stufe dieser Entwicklung war, dass im Zweiten Weltkrieg die Demokratie aus Amerika nach Europa zurückgebracht und Europa gewissermaßen von Amerika aus neu zivilisiert wurde. Wie sich Amerika einst von seinem Gründer Europa emanzipierte, wird sich Europa von seinem Neubegründer Amerika emanzipieren.

Das mag manchem nicht gefallen, zumal ein Gespenst in Europa umgeht; aber selbst jene, denen das Gespenst des Antiamerikanismus ein lieber Hausgeist ist, den sie gerne aufrufen, um Kritik an Amerika als antiamerikanisches Ressentiment zu geißeln, wissen natürlich, dass die USA und Europa einander so fremd sind wie noch nie seit 1945.

Das hat auch mit der rabiaten Regierung Bush zu tun, die der Weltgemeinschaft ein ums andere Mal demonstriert, dass ihr internationales Recht nichts bedeutet und sie sich selbstherrlich vorbehält, ihre nationalen Interessen als vermeintliche Anliegen der Menschheit durchzusetzen.

Doch reicht der Prozess, der die Unterschiede zwischen Europa und den Vereinigten Staaten schärft, viel weiter zurück. Dass die USA, was Bildung, Gesundheit, Wohlfahrt und Justiz betrifft, derzeit keine Aussicht hätten, der EU beizutreten, hat nicht nur mit der Regierung Bush, sondern mit jenem amerikanischen Weg zu tun, den in Europa kaum jemand gehen will; und selbst die neoliberalen Ideologen innerhalb der Union werden diesen Weg nur einschlagen können, wenn es ihnen gelingt, die soziale Verwüstung Europas als überfällige Modernisierung auszugeben. (DER STANDARD, Printausgabe, 31.12.2002/1.1.2003)

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