Die Grenze war unberechenbar. Wenn man nicht aufpasste, hatte man sie auf einmal überschritten. Dann dauerte es nicht lange und ein jugoslawischer Zöllner mit einem Schäferhund an kurzer Leine scheuchte einen zurück und sagte in harschem Ton: Gehe zu Eltern, gehe zu Eltern! Damit meinte er nicht, dass er zu den Eltern gehen würde, um einen zu verpetzen, sondern dass man selbst zu seinen Eltern zurückgehen sollte. Dann lief ich den Hügel hinauf und war plötzlich wieder bei uns und nicht mehr drüben.

Die Grenze schien der Zöllner mit sich herumzutragen, denn manchmal ging er mit auf den Hügel, machte seine wegwischende Handbewegung und war erst zufrieden, wenn er mich bei meinen Leuten abgeliefert hatte, wobei er immer in angemessener Entfernung blieb, die andere Hand an sein Maschinengewehr gelegt, als wollte er es beschützen.

Die Grenze hatte etwas Abenteuerliches. Wenn es hieß, "Wir fahren an die Grenze", war ich immer ganz aufgeregt. Es bedeutete, dass meine Eltern und ich uns ins Auto setzten und den Grenzübergang überquerten, damit sie dort Alkoholika und Zigaretten kaufen konnten. Wenn wir über der Grenze waren, wenn der Grenzübergang reibungslos vonstatten gegangen war, war ich glücklich und stolz. Denn ich wusste, dass das keine Selbstverständlichkeit war. Es war gefährlich. Man konnte aufgehalten werden, auf die Seite gewunken, dann wurde der Kofferraum geöffnet, man konnte zurückgeschickt oder gar verhaftet und eingesperrt werden. Der Pass konnte eingezogen, das Auto konfisziert werden.

Im fremden Land würde man im Gefängnis sitzen, ich in einer Zelle mit anderen Kindern, von den Eltern getrennt und in Heime geschickt, wo man uns schikanierte und zu sinnlosen Arbeiten zwang. Die Eltern würden wir nie wieder sehen, sie wären in Sibirien, wo ewiger Winter herrschte. Und das meiner Mutter, die so leicht fror! Das war aber nie passiert.

Nach der Grenze sah es gleich ein bisschen unordentlicher aus, wilder. Manche Gegenden in der Südsteiermark sahen ähnlich aus, damals. Heute nicht mehr. Heute ist die Landschaft zurechtfrisiert und in die Schranken gewiesen. Die Weinstöcke sind nicht mehr krumm, sondern gerade, in Linien aufgestellt wie mit dem Lineal gezogen, um maximalen Ertrag herauszupressen.

Zum Dessert eine weiße Dame
Meist fuhren wir dann gleich nach Maribor weiter, weil es nur ein Katzensprung war und man dort mehr Auswahl hatte. Wir gingen vielleicht ins Hotel Slavia, das vornehmste in Maribor, um mittagzuessen. Die Tische dort trugen weiße Tücher, die bis zum Boden reichten, die Gläser waren aus geschliffenem Kristall und die riesigen Teller aus schneeweißem Porzellan. Meine Eltern aßen große dicke Steaks mit Gemüse und Pommes Frites, ich nur Pommes Frites und zum Dessert eine Weiße Dame, Vanilleeis mit Schlagobers und Schokoladensauce in großzügiger Menge, serviert in einer Kristallschale mit einem langen eleganten Löffel. Das gab es so nur im Slavia. Zahlreiche Kellner lehnten an den Wänden, sie waren anders als bei uns. Nicht eilig und dienstbeflissen, sondern gemächlich und stoisch. Sie hatten stählerne Nerven. Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen.

Wenn nicht gerade Sonntag war, gingen wir ins Kaufhaus. Dieses Kaufhaus war das Schönste. Es war mehrstöckig, in jeder Etage gab es interessante Dinge. Kleidung, Geschirr, Haushaltsgeräte, Spielzeug. Und es gab Rolltreppen. Die gab es bei uns nicht. Dazu musste man erst nach Graz fahren, und das war weiter weg als Maribor. Während meine Mutter Ausschau nach Teekannen hielt, fuhr ich die Rolltreppen auf und ab. Dabei entdeckte ich einmal die Schreibwarenabteilung. Hier gab es die wunderbarsten Notizbücher, Hefte und Stifte. Viel schöner als bei uns, sie waren auf eine diskrete Art schön, nicht so aufgedonnert, sondern zart und zurückhaltend, pastellig irgendwie. Sie nahmen sich zurück und zeigten, dass der Inhalt wichtiger war als die Hülle.

Die Einkäufe wurden im Auto verstaut, dann machten wir noch einen Spaziergang im Park, der fast so groß wie der Grazer Stadtpark war. So kam es mir jedenfalls vor. Dort gab es einen Teich mit schwarz glänzenden Schwänen, vor denen ich ziemlichen Respekt hatte. Heute noch finde ich weiße Schwäne etwas lächerlich. Dann besuchten wir vielleicht noch den ältesten Weinstock der Welt am Ufer der Drau. Er war so dick wie ein Baumstamm und über 400 Jahre alt.

Am Markt wurden ein paar Lebensmittel gekauft, Brot, Wurst und Käse, Oliven und Paprika. Nicht nur, weil es so billig war, sondern weil es anders schmeckte, den Reiz des Exotischen ausstrahlte, obwohl nur ein paar Kilometer zwischen uns und drüben lagen. Dass in diesen wenigen Kilometern sich zwei verschiedene Welten einzementiert hatten, begriff ich erst später. Beim Zurückfahren wurde mir eine Stange Zigaretten unter die Jacke gesteckt, Grenzbewohner durften ja nur eine einzige Schachtel importieren und meine Eltern kamen mit einer Schachtel nicht lange aus. Vor der Grenze wurde noch aufgetankt, dann hatten wir alles erledigt.

Ich war immer nervös, während die Pässe kontrolliert wurden und der Beamte in den Wagen spähte. Ich versuchte unbeteiligt zu schauen. Das wirkte bei mir offensichtlich etwas grimmig, Mädchen lachen, wurde ich dann aufgefordert. Oft wurden wir auch einfach durchgewunken, es war keine so strenge Grenze, außerdem kannte man die Zöllner, vor allem auf der österreichischen Seite.

So schön bist du auch nicht
Dass Mädchen lachen sollen, wurde mir immer wieder gesagt. Hüben wie drüben. Die Grenze, die ich durch Nichtlachen errichtete, wurde ständig infrage gestellt.

Als ich älter wurde, bekam die Aufforderung zum Lachen etwas Aggressives. Männer auf der Straße wollten nun von mir angelacht werden, und ich wurde von ihnen beschimpft, wenn ich es nicht tat. Als Hure meist. Oder es wurde mir an den Kopf geworfen, dass ich "soo" schön auch wieder nicht sei. Oder dass man mich am besten nach Ungarn verkaufen solle. In einem New Yorker Park drohte mir ein Obdachloser, mir mit einem Messer ein Lächeln ins Gesicht zu schneiden, wenn ich nicht freundlicher schauen würde. Wenn ich keine symbolische Bereitschaft zeigte, zur (sexuellen) Verfügung zu stehen. Mädchen lachen, das ist der Freibrief, damit die Grenzen aufgehoben oder überschritten werden. Wenn Mädchen nicht lachen, bedeutet das eine freche Unzugänglichkeit, die Mädchen gar nicht zusteht.

Als ich älter wurde, begann mein Körper zu expandieren, auszuufern und drohte zu entgleisen. Ich überschritt die Grenze der Norm. Ich erfüllte das Schlankheitsgebot nicht. Jetzt hatte ich erst recht keinen Grund zum Lachen. Dass ich offensichtlich gerne esse, wurde mir gesagt, dass ich ein bisschen aufpassen solle auf mein Gewicht. Eigentlich hätte das meine individuelle Abgrenzung zu den anderen Körpern sein können: aber das Aushalten der eigenen Grenzziehung gegenüber der Grenzziehung der Gesellschaft ist in der Pubertät nicht leicht. Einerseits will man einzigartig sein, andererseits wünscht man sich genauso zu sein wie alle anderen. Ich wollte leben in ihrem "dünnen Land". Denn alle waren dünner als ich. Glaubte ich jedenfalls.

Wenn ich Fotos von damals betrachte, sehe ich ein etwas molliges, pausbäckiges und griesgrämiges Mädchen. Den üblichen Babyspeck sehe ich. Von dick kann überhaupt keine Rede sein. Dennoch fing ich an mit Diäten, Hungern, Sport, Kotzen. Geruch nach Erbrochenem statt Parfüm. Muskeln statt zartem Fleisch. Knochen statt Rundungen. Leichenblässe statt rosigen Wangen. Aber auch das wurde nicht goutiert. Nun wurde mir empfohlen, doch mehr zu essen, weil schon nichts mehr dran sei an mir. Es wurde mir nicht nur empfohlen, sondern mehrmals zugeschrien, oft sogar von der anderen Straßenseite. Anscheinend ist man als Frau nicht nur zum Lachen verpflichtet, sondern auch dazu, dass an einem etwas dran ist. Man wird zu einer öffentlichen Landschaft, in die jeder (ein-)treten kann, der Grenzbalken wird weggefegt.

Die Umformung meines Körpers oder besser der Wunsch danach, begann sich selbstständig zu machen. Dazu kam ein neuer Feind: der Hunger. Wer ständig Kalorien reduziert, hat irgendwann einmal einen Hunger, den er nicht mehr ignorieren kann. Und dann isst man. Und isst man. Man hört nicht mehr auf zu essen. Plötzlich gibt es überhaupt keine Grenze mehr. Man isst so lange, bis man wirklich nicht mehr kann. Und dann sitzt man da als Jammergestalt mit einem Riesenbauch und es hilft nur noch Kotzen. Und irgendwie begann sich dieses Fressen und Kotzen zu verselbstständigen. Das Abnehmen war immer noch oberstes Gebot, aber Fressen und Kotzen wurden genauso wichtig. Es wurde wichtig, sich diesem Unding einmal am Tag, oder zweimal oder dreimal auszusetzen. Immer wieder wurde die Jammergestalt heraufbeschworen. Heimlich oder öffentlich, wo immer es ging. Zu Hause, in der Schule, im Restaurant.

Fressen und Kotzen


In meinem Inneren gab es nun eine Grenze, wo ich ständig hin und her ging. Die Grenze war dort, wo die Sucht begann. Auf der anderen Seite war der Kampf gegen die Sucht. War ich auf der Seite der Sucht, wurde ich zu einem fremdgesteuerten automatisierten Wesen, das sich für nichts anderes interessierte, als die Sucht zu füttern, zu besänftigen. Ich war von mir abgelenkt, musste mich nicht mit mir beschäftigen. War ich auf der Kampfseite, errrichtete ich an der Grenze Barrikaden um Barrikaden, die ich dann ganz locker wieder einriss. Barikaden, die man selbst errichtet, sind schnell abgebaut.

Heute gibt es die Grenze immer noch, aber keine Barrikaden mehr, nicht einmal eine Passkontrolle. Ich schaue rüber und winke meinem alten (dünneren) Ich. Vielleicht muss ich wieder einmal hinüber, genau kann man es nie wissen, denn die Grenze ist unberechenbar, plötzlich kann sie ganz woanders sein. Man trägt sie mit sich herum wie der jugoslawische Zöllner.

Anscheinend ist man nicht nur zum Lachen verpflichtet, sondern auch dazu, dass an einem etwas dran ist. Man wird zu einer öffentlichen Landschaft, in die jeder (ein-)treten kann. (DER STANDARD, Print, 10./11.11.2007)