Michael Kaufman bei der Internationalen Gewaltschutztagung Anfang November in Wien.
Foto: David Aykler

Michael Kaufman gründete 1991 in Kanada die White Ribbon Campaign, die weltweit größte Männerinitiative gegen Männergewalt an Frauen. Anfang November referierte er bei der Internationalen Gewaltschutztagung in Wien. Mit dieStandard.at sprach er über seine Erfahrungen mit gewalttätigen Männern, über Warnsignale in Beziehungen und wie Männer dazu beitragen können, Gewalttäter zu bremsen.

dieStandard.at: Worin liegen Ihrer Meinung nach die Gründe für Männergewalt gegen Frauen?

Michael Kaufman: Zuerst möchte ich betonen, dass Männer nicht von Natur aus gewalttätig sind – die meisten Männer sind nicht gewalttätig. Die Gründe für die Neigung zu Gewalttätigkeit sind vielfältig, einer davon liegt schon darin, wie Buben aufwachsen: Burschen müssen stark sein und mutig, auch wenn sie sich innerlich anders fühlen. Sie stehen von klein auf im Spannungsfeld zwischen den eigenen Gefühlen, Ängsten und Unsicherheiten und den "starken" Idealbildern von Männlichkeit – das Problem, ein "richtiger Mann" sein zu müssen, begleitet sie das ganze Leben. Um ihre Unsicherheit zu kompensieren, wenden manche Männer Gewalt an. Darüberhinaus haben Männer seit Jahrhunderten mit Erlaubnis der Gesellschaft Macht und Kontrolle ausgeübt und Gewalt angewendet, um zu bekommen, was sie wollen.

dieStandard.at: Wie können Männer anderen Männern vermitteln, dass ihr gewalttätiges Verhalten inakzeptabel ist?

Michael Kaufman: Männer dürfen nicht länger zusehen, nur weil sie selbst Angst haben, gegen gewalttätige Männer aufzutreten. Durch das Schweigen geht die Gewalt weiter. Sie müssen die Botschaft "Keine Gewalt gegen Frauen" beharrlich und kreativ als Multiplikatoren an Freunde, Nachbarn, Verwandte weitertragen. Ein Techniker hat zum Beispiel in jeden Videorecorder, den Männer zur Reparatur brachten, eine Videokassette der White Ribbon Campaign eingelegt – wenn die Männer den Recorder zuhause einschalteten, lief unsere Botschaft über ihren Fernseher.

dieStandard.at: Ist es für manche Männer wirklich ein Grund, sich zu verändern, nur weil ein Freund oder Nachbar sie auf ihr Verhalten aufmerksam macht?

Michael Kaufman: Ja, sehr, denn viele Männer nehmen an, dass die anderen Männer ihr Verhalten akzeptieren. Wir haben Studien in Schulen gemacht, wo sich herausstellte, dass viele junge Männer glauben, ihre Freunde würden Gewalt okay finden – aber als wir sie fragten, ob sie persönlich denn auch Gewalt okay finden, verneinten das die meisten. Es gibt also anscheinend einen großen Unterschied zwischen dem, was Männer denken, welches Verhalten andere Männer tolerieren und dem, was für Männer tatsächlich akzeptabel ist. Sie versuchen sich dem anzupassen, was ihrer Meinung nach die Gruppe für gut befindet. Die White-Ribbon-Kampagne versucht mit ihren Botschaften zu vermitteln, was wir Männer nicht okay finden.

dieStandard.at: Und wenn Männer nicht hinhören wollen?

Michael Kaufman: Auch wenn es oft nicht so scheint: Meistens hören sie doch hin, aber es braucht Zeit – wir dürfen nicht aufhören, an sie zu appellieren. Die männerdominierte Gesellschaft ist jahrhundertealt – wir werden sie nicht in kürzester Zeit verändern können. Aber man darf nicht aufgeben: Männer müssen immer wieder hören, dass gegenseitiger Respekt und nicht Gewalt und Kontrolle die Basis für eine gute Beziehung ist.

Leider sind manche erst dann bereit, sich zu verändern, wenn die Partnerin sie verlassen hat, wenn sie spüren, dass sie das Wertvollste in ihrem Leben verloren haben. Manche reagieren mit Wut – andere mit Schmerz. Und meist hat die Frau dann bereits einen langen Leidensweg hinter sich, weil die Gewaltspirale oft erst richtig beginnt, wenn sie ankündigt, den Mann verlassen zu wollen.

dieStandard.at: Was bringt Männer dazu, sich zu ändern?

Michael Kaufman: Manche Gewalttäter, die ich kennengelernt habe, haben sich verändert, weil sie verlassen wurden, manche, weil sie ins Gefängnis kamen und sie während des Prozesses einsahen, dass sie Hilfe brauchen. Andere wollten sich ändern, weil sie mit sich und ihrer Lebenssituation zutiefst unglücklich waren. Und ich habe einige Männer kennen gelernt, die durch die White Ribbon Campaign zum Nachdenken bewegt wurden oder von anderen Männern hörten, dass ihre Gewalttätigkeit nicht akzeptabel sei.

dieStandard.at: Wie kommt es, dass sich Männer in Beziehungen als gewalttätig herausstellen, wenn es davor scheinbar keine Anzeichen dafür gab?

Michael Kaufman: Das passiert immer und immer wieder: Eine Frau heiratet, sie ist überzeugt, dass ihr Mann gut zu ihr passt und plötzlich beginnt er, eifersüchtig zu werden, sie zu bedrohen, sie zu kontrollieren und Gewalt anzuwenden. Meistens verändert sich so ein Mann nicht plötzlich, sondern ist bereits zuvor latent gewaltbereit, aber wenn die Beziehung gefestigt ist, fühlt er sich sicher, dass die Frau ihn nicht mehr verlassen wird. Er muss nicht mehr um sie kämpfen, sondern hat das Gefühl, sie unter Kontrolle zu haben und aus dieser Sicherheit heraus nun tun zu können, was er will.

In unseren Workshops mit jungen Menschen versuchen wir, junge Frauen dazu anzuhalten, auf wichtige Warnzeichen zu achten, bevor die Situation eskaliert: Wenn der Freund eifersüchtig wird, wenn sie sich mit einem anderen Mann unterhält, wenn er sie über Begegnungen mit anderen Männern ausfragt, wenn er in der Beziehung alle Entscheidungen selbst treffen will, oder Druck auf sie ausübt, mit ihm Sex zu haben, dann sind das Warnzeichen dafür, dass der Freund sie kontrollieren will.

dieStandard.at: Mit welchen Berufsgruppen kooperiert White Ribbon, um Gewalt an Frauen in der Gesellschaft öffentlich zur Sprache zu bringen?

Michael Kaufman: Wir ermutigen zum Beispiel Priester, denen eine Frau von ihren Gewalterfahrungen mit ihrem Mann berichtet, nicht wegzuschauen oder ihr gar einzureden, es sei ihre Pflicht, zu ihrem Mann zu halten. Wir vermitteln ihnen, dass sie eine Verantwortung diesen Frauen gegenüber tragen. Auch LehrerInnen tragen eine große Verantwortung, indem sie mit jungen Leuten über den richtigen Umgang mit Gewalt sprechen. Es ist Teil der Veränderungen, die in der Gesellschaft stattfindet, zu erkennen, dass wir alle Verantwortung für diese Veränderungen tragen.

dieStandard.at: Empfinden gewalttätige Männer auch Reue dafür, was sie den Frauen antun?

Michael Kaufman: Ich denke, vielen Männern tut die Tat im Nachhinein leid, aber trotzdem werden die meisten immer wieder gewalttätig, weil sie keine Hilfe bekommen, um mit ihren Problemen fertig zu werden – sie sind darin gefangen. Aber sie sind Erwachsene mit Verantwortung – und haben immer eine Wahl.

dieStandard.at: Können sich auch Frauen an der White Ribbon Campaign beteiligen, oder es ist es eine reine "Männersache"?

Michael Kaufman: Die meisten Mitarbeiter sind Männer, aber in manchen Ländern sind es Frauen und Männer, die die Kampagnen gemeinsam planen. An Schulen sind es zum Beispiel sogar sehr oft Lehrerinnen, die jungen Menschen unsere Botschaften vermitteln. Wir schätzen es, wenn Frauen uns unterstützen, uns Feedback geben, uns zeigen, was falsch läuft und uns helfen, etwas zu verändern. Frauen arbeiten schließlich schon seit Jahren an diesen Themen und sind Expertinnen auf dem Gebiet. Es ist sehr wichtig, dass Frauen nicht aufgeben, Männer, die Gewalt ausüben, zu verändern und Männer in ihrem Umfeld dazu ermutigen, an ihre männlichen Freunde und Bekannte zu appellieren. Wenn eine Frau zum Beispiel merkt, dass der Bruder ihres Mannes seine Frau missbraucht, dann sollte sie ihren Mann bitten, mit seinem Bruder darüber zu sprechen.

dieStandard.at: Sie sprechen in ihrem Vortrag über Mitleid mit den Tätern – wie ist das zu verstehen? Es ist doch eher das Opfer zu bemitleiden...

Michael Kaufman: Es gibt keinerlei Rechtfertigung für Gewalt an Frauen – das möchte ich ganz stark betonen. Ich meine damit nicht Anteilnahme: Was ich meine, ist, den Täter als Mensch mit Problemen wahrzunehmen, der nicht schon als Gewalttäter geboren wurde, ohne jedoch seine Gewalttätigkeit zu akzeptieren - Empathie, aber keine Sympathie. Ich erwarte auch gar nicht, dass jeder Mensch das kann – Frauen, die Gewalt erfahren haben, sollten sich keinesfalls auch noch über die Gefühle des Täters Gedanken machen. Aber es muss Menschen geben, die Zugang zu den Gewalttätern finden und ihnen helfen, sich zu verändern.

dieStandard.at: White Ribbon engagiert sich in mehr als 45 Ländern weltweit gegen Männergewalt an Frauen – wie sieht das in Ländern wie Pakistan aus, wo Gewalt an Frauen öffentlich ausgeübt und von einem Großteil der Gesellschaft noch immer akzeptiert wird?

Michael Kaufman: Es freut mich sehr, dass in Pakistan nun seit kurzem auch eine kleine Gruppe von Männern über White Ribbon gegen Gewalt an Frauen mobil machen – das ist ein wunderbarer Anfang. Dort spielt aber vor allem die Arbeit der Frauenorganisationen eine sehr große Rolle. International sind es derzeit ebenfalls vor allem Frauen, die ihre Stimme erheben – auch auf dieser Ebene bräuchte es mehr Männer, die sich für die Sache einsetzen. Es ist noch ein langer Weg zu gehen, aber es sind schon viele Ansätze für Veränderung sichtbar. (Das Interview führte Isabella Lechner/dieStandard.at, 26.11.2007)